Voller Vertrauen und Zuneigung geht sie auf ihn zu, doch er wendet sich ab; daraufhin bleibt sie zunächst verwirrt stehen, geht dann aber ihren eigenen Weg allein weiter. „Renku“ ist voller Szenen wie dieser: berührend oder ergreifend. „Renku“ heißt die jüngste Uraufführung des Hamburg Balletts, die am 17. Juni die 38. Hamburger Ballett-Tage eröffnete.
Normalerweise kreiert Ballettintendant John Neumeier eine neue Choreografie alljährlich zur Eröffnung des Festivals. Nicht in diesem Jahr – da gab er der Jugend den Vortritt; er bat zwei Tänzer seiner Company zu choreografieren: Yuka Oishi und Orkan Dann, die beide schon choreografische Erfahrungen sammeln konnten und seit zehn Jahren dem Hamburg Ballett angehören. Neumeier regte ein bestimmtes Vorgehen an: Wäre es nicht möglich, das Gestaltungsprinzip des Renku, der verketteten Verse, von der Sprache mit Worten auf die Körpersprache zu übertragen? Die beiden jungen Choreografen ließen sich auf Abenteuer und Aufgabenstellung ein – und meisterten beides bravourös.
Yuka Oishi erklärt, wie sie sich der Lösung näherten: „Wenn ich das Wesen von einem Renku erklären soll, so denke ich an ein Bild in einem gebundenen Buch. Ich wähle eine Farbe der Stifte aus, für ‚Renku‘ meine ich damit die Tänzer. Und nehme zunächst die Platzaufteilung und Linienführung vor. Dann leite ich das Blatt an Orkan weiter. Hat er seine Arbeit vorgenommen, gibt er es wieder ab. So lautet das Prinzip. Was wir allerdings zuvor gemeinsam festgelegt haben, ist die Beschaffenheit des Papiers und Umschlags.“ Und vermutlich auch, welche Farbstifte – also Tänzer – das Gedicht malen sollen.
Im Zentrum steht das Paar in der eingangs beschriebenen Szene ohne Rollennamen, SIE und ER werden getanzt von den beiden Ersten Solisten Silvia Azzoni und Lloyd Riggins. Ihre Beziehung zueinander zieht sich wie ein roter Faden durch den zweieinhalbstündigen Abend. Die beiden begegnen sich immer wieder, und jedes Mal nimmt ihr Aufeinandertreffen einen anderen Verlauf. Einmal umwirbt Riggins sie energisch, ein anderes Mal nähert er sich unsicher und verhalten; dann wieder ergreift Azzoni die Initiative und stellt sich ihm herausfordernd in den Weg oder macht sich mit ihren Bewegungen für den Partner passend. Und obwohl beide zwischenzeitlich andere Verbindungen eingehen, bleibt ihre besondere Beziehung zueinander bestehen; sie nehmen den Faden ihrer individuellen Geschichte immer wieder auf und schreiben sie fort. Manchmal gehen sie auseinander und kommen in Kleidern einer anderen Farbe zurück, doch bleiben sie dabei stets die Alten; mitunter kehren sie aber auch im gleichen Outfit zurück – und scheinen dennoch gar nicht mehr sie selbst zu sein.
Die beiden Protagonisten erzählen keine Geschichte im üblichen Sinn eines Handlungsballetts, aber sie erzählen eine hochspannende Geschichte, ihre persönliche Geschichte, mit der sich das Publikum identifizieren kann. Und während das Hauptpaar umeinander kreist, bezieht es weitere Menschen mit ein. So nimmt sich ein anderer Mann (Edvin Revazov) der einsamen Silvia Azzoni an, nachdem Lloyd Riggins sie erneut stehen ließ. Und auch er knüpft weitere Bindungen. Auf diese Weise entsteht ein großflächiges Tanzgedicht, bei dem es durchaus nicht nur um Begegnungen zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Menschen und animalischen Wesen, oder dem Animalischen im Menschen und dem allgegenwärtigen Tod geht. Bei der Identifizierung der Figuren ist die Farbe der Kleidung nur manchmal eine Hilfe: Die fantasievollen Kostüme von Michael Court sind rot, weiß und schwarz; sie symbolisieren Liebe, Unschuld und Tod. Doch nicht jede Gestalt, die in schwarz auftritt, ist das personifizierte Sterben, die beiden Choreografen gehen subtiler mit ihren tänzerischen Mitteln um.
Und auch mit den musikalischen. Oishi und Dann lassen Franz Schuberts Streichquartett d-Moll D 810, besser bekannt als „Der Tod und das Mädchen“, in der Fassung für Streichorchester von Gustav Mahler die Grundstimmung angeben. Drei Kompositionen von Alfred Schnittke unterbrechen diesen Klangteppich, um schließlich mit dem furiosen Violinkonzert Nr. 2 „The Four Seasons“ von Philip Glass zu enden – komponiert für den Geigenvirtuosen Robert McDuffie und von diesem am Premierenabend auch live gespielt.
Die aus Osaka stammende Yuka Oishi und der in Deutschland geborene Orkan Dann kreierten jeweils zehn Sequenzen. Die sind indes nicht mehr als Bestandteil zu identifizieren, sie emulgieren zu einer aufregenden Choreografie mit betörenden Bildern. So wie auch ein Abschnitt des Bühnenbilds, das die Choreografen ebenfalls entwarfen: Japanische Schriftzeichen rutschen an der Bühnenrückwand herab und setzen sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Genau das passiert auch in den Köpfen des Publikums mit Tanz und Musik von „Renku“.
Text: Dagmar Ellen Fischer
Foto: Holger Badekow
Nächste Aufführung: 29.6., Hamburgische Staatsoper