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Linie S 1 – das Hamburg-Musical

St. Pauli Theater
Linie S1

Banker trifft Punker – in der S-Bahn kommt man sich näher

Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Frank Siemers

Ein Jubelfest auf Hamburgs weltberühmtem Kiez – berechtigt und verdient für die personenreiche Riege der Macher – bei der Premiere des neuen Musicals „Linie S1 – das Hamburg-Musical“, und zwar genau dort, wo es hingehört, im St. Pauli Theater!

Zum Hintergrund: Hamburg, seit Jahrzehnten Deutschlands Musical-Stadt Nr. 1, fehlte nur noch eines: Das in den eigenen Mauern spielende Musical. Nun ist es da: St. Pauli Theater, das Hamburger Abendblatt und die HVV haben sich zusammengetan, um dieses teure und aufwändige Unternehmen zu stemmen. Marcus Busch und Ulrich Waller schrieben das Buch der originellen Handlung: Ein zunächst nur potentielles Liebespaar verfehlt einander dauernd, durch alle Stadtteile von Barmbek bis Rissen, von der Reeperbahn bis zum Flughafen; beide reisen und rasen mit der S-Bahn Linie 1, die auf diese Weise einen ungeahnten Werbe- und Öffentlichkeitseffekt bei Einheimischen wie Touristen erzielt.

Bühnentechnisch gesehen müht die Mannschaft des St. Pauli Theaters sich gar nicht erst, mit den gewaltigen szenischen Effekten, mit denen die Commercials in der Regel aufwarten, zu konkurrieren, sondern begnügt sich mit geschickten und rasanten Verwandlungen der Spielorte sowie einer Projektionsfülle, die Hamburg sehr liebe- und reizvoll präsentiert (Andreas Heller).

Regisseur ist der Künstlerische Leiter des Hauses, Ulrich Waller, mit dem die Inhaber-Familie Collien einen Bund schloss, als sie ihn nach dem Weggang von den Kammerspielen (die er gemeinsam mit Ulrich Tukur geleitet hatte), auf den Kiez holte. Waller ist ein vielseitiger und versierter Inszenator, vernünftig genug, Menschen in sein Team zu holen, die etwas können, das seine Fähigkeiten notwendigerweise übersteigen muss. In diesem Fall den Choreografen Kim Duddy, dessen tänzerischer Ideen- und szenischer Einfallsreichtum das 15-köpfige Ensemble exzellenter Musical-Darsteller regelrecht durch den Abend peitscht. Es ist einfach eine Wonne, das zu sehe, und in diesem Punkt ist Duddys Arbeitsergebnis eindeutig mehr wert als die Choreografien in den großen Musicals, die in den vergangenen zehn Jahre hier liefen – mit Ausnahme der Produktion „König der Löwen“!

Was angesichts eines solchen Musical-Premieren-Abends in einer Größenordnung, mit der im Rahmen dieses relativ kleinen, traditionsreichen Privattheaters Jahre zuvor niemand rechnen konnte, einmal kurz betrachtet werden sollte, ist die Antwort auf die Frage: Wie begann das alles, will sagen, wie kam die Kategorie Musical nach Deutschland und wie entwickelte sie sich hier?

Der Theaterbesucher in der Zeit des Nazi-Regimes in Mitteleuropa konnte in vielerlei Hinsicht kulturell nicht auf dem aktuellen Stand des internationalen Theaters sein, weil alles, was nicht „deutschem Geist“ entsprang, als entartet galt. Dazu gehörte auch das amerikanische Vaudeville, das sich in den USA langsam überlebte und zur Kategorie Musical entwickelte.

Opera buffa, Operette und das bereits erwähnte Singspiel Vaudeville hatten schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Unterhaltungsbühnen in New York und London ihren Höhepunkt überschritten und daher keine große Bedeutung mehr. Langsam erhob sich der erste Glanz derjenigen Kategorie über den Horizont, die wir heute als „Mutter der Musicals“ zu nennen uns angewöhnt haben. Dazu zählen die großen Klassiker wie Cole Porters oder George Gershwins Arbeiten. Unbestrittener Höhepunkt dieser Zeit wurde Leonard Bernsteins „West Side Story“. Damit sind wir aber bereits im Jahr 1957. Zwei Jahre zuvor erschienen die ersten Musicals, nachdem sie mit „Kiss Me, Kate“, „Annie, Get Your Gun“, der Fabel „Die Schöne und das Biest“ oder „Anatevka“ London erobert hatten, auch auf deutschen Bühnen, obwohl es (noch ) kein dafür ausgebildetes künstlerisches Personal gab. Beispiel: „Kiss Me, Kate“ (basierend auf Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“) erlebt an den Städtischen Bühnen Frankfurt 1955 die deutsche Erstaufführung mit der glänzenden Lola Müthel in der Titelrolle und in der Inszenierung keines Geringeren als des Generalintendanten Harry Buckwitz, der sich gewöhnlich damit beschäftigte, Brecht in der damaligen BRD gegen heftigen rechten politischen Widerstand durchzusetzen.

Später kam die Filmindustrie auf den Geschmack: Der Oscar-überschüttete „Amerikaner in Paris“ gilt als d a s klassische Beispiel für diese Behauptung, „The Sound of Music“ und „Mary Poppins“ sind weitere. Es folgte – auch in Mitteleuropa – die unruhige Zeit der 68er, die ihren Niederschlag nicht nur in Musicals wie „Hair“ oder „Oh, Calcutta“ fand, sondern von vielen kleinen deutschen Stadttheatern thematisiert wurde, obwohl die Intendanten die Partien mit Operettensängern besetzen mussten, die von den neuen Techniken des Musical-Singens, wie etwa dem „Belting“, keine Ahnung hatten (das englische Wort „Belting“ heißt wörtlich übersetzt schmettern und bezeichnet eine spezielle Gesangstechnik aus Rock- und Popmusik). Von Hagen bis Flensburg geisterte in diesen Jahren zum Beispiel die Adaption von Shakespeares „Was Ihr wollt“ in der Donald-Driver-Version mit dem Titel „Your Own Thing“ durch die Provinz. Damals bekannte Schlagersänger wie Bully Buhlan, die junge Renate Kern oder die auf anderen Feldern durchaus erfolgreiche schwarze Altistin Mona Baptiste wurden für die Hauptrollen engagiert.

Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt: Im Zentrum des Betrachters erscheinen die großen Ausstattungsstücke der 1980er Jahre (fast sämtlich komponiert von Andrew Lloyd Webber) sowie „Cats“ oder der Bochumer Renner „Starlight Express“, Hamburgs Hafen-Klassiker „König der Löwen“ , das Revolutionsdrama „Les Misérables“ oder das auch auf Tourneen reisende „Phantom der Oper“.

Sie alle wurden und werden produziert von Millionen schweren, selbstverständlich nicht subventionierten Firmen, die für eine einzelne, in der Regel jahrelang laufende, Produktion mitunter ein eigenes Haus bauen. Ein Vabanquespiel, das entweder glückhaft ausgeht wie in Hamburg, Stuttgart oder Köln, oder aber in die Pleite führt, wie beim Essener „Colosseum“ und der Spielstätte in Niederhausen bei Frankfurt geschehen.

Zurück zur aktuellen Premiere von „Linie S1“: Sieben Schauspieler und sechs Tänzer – an der Spitze das hamburgische Urgestein Peter Franke – spielen und tanzen 70 Rollenfiguren in Ilse Weiters farbenprächtigen Kostümen, ständig angeheizt von einer Live-Band unter der Leitung des temperamentvollen Matthias Stötzel. Zu der heißen Musik heißt es im Programmzettel: „Durch die Story führen Songs von Hamburger Musikern – von Hans Albers über Udo Lindenberg, Jan Delay, Kettcar bis zu den Lassie Singers und solchen, die über Hamburg gesungen haben, wie Tim Fischer oder Hildegard Knef und nationale sowie internationale Hits, etwas von Marius Müller-Westernhagen, Herbert Grönemeyer, den Village People oder Army of Lovers. Auch die St.-Pauli-Hymne ‚You’ll Never Walk Alone‘ fehlt nicht.“

Fazit: Ein Edelstein unter dem ohnehin schon riesigen Unterhaltungsangebot auf dem Kiez.

Vorstellungen im St. Pauli Theater: 17.-22. und 24.-29.9., 1.-4., 8.-18. und 24.-30.10 sowie 7.-10. und 12.-14.11., jeweils 20.00 Uhr, im Oktober und November So. um 19.00 Uhr. Karten unter Tel. 47 11 06 11.

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