In Kürze:
Größten Publikumszuspruch erhielt bei der Premiere Stefan Puchers Inszenierung, die sich mit der Romanfigur des Don Quijote auseinandersetzt. Zitate aus dem Roman von Miguel de Cervantes und eigens verfasste Texte von Roland Schimmelpfennig, Ginka Steinwachs, Julie Zeh u.a. bilden die Grundlage für eine spannenden Reise durch einen interpretatorischen Dschungel. Die wechselnde Sicht auf die Figur mit Stefan Harzer in der Titelrolle entwickelt wie ein Kaleidoskop ein vielfältig schillerndes, anregendes und fesselndes Panorma: über den Kämpfer, der so scheinbar hoffnungslos gegen Windmühlen kämpfte und doch für sich als Sieger aus dem Kampf hervorging.
In Länge:
Ein hohes Lied auf die Fantasie: Werdet alle Don Quijote! La Mancha ist Hamburg und euch stehen alle Möglichkeiten offen. Während draußen vorm Theater die Occupy-Bewegung neue Zelte aufschlägt, wird drinnen ein verwandter Kampf gegen Windmühlen beschworen – in einem Bühnenbild, das stellenweise an die Buden draußen vor der Tür erinnert.
Don Quijote wird in Stefan Puchers fesselnder Inszenierung in einer Vielzahl von Facetten als Künstler skizziert. Als einer, der trauernd über die Wirklichkeit mit ihren Zumutungen seine autarke Weltsicht postuliert. „Ich bin ein Verfechter der Antirealität“, sagt er. Oder: „Wirklichkeit IST doch nicht, die muss erst gesucht werden!“ Jens Harzer ist ein wunderbarer „Ritter von der traurigen Gestalt“ in den Spuren des literarischen Geschöpfes von Miguel de Cervantes. Er verkündet euphorisch seine Sicht der Dinge, schreitet wacker drauflos und zeigt dabei doch stets melancholischen Nerv. Versucht er sich anfangs noch als Handelnden zu installieren, wird er immer mehr zum Beobachter seiner Umgebung. Etwa der keifenden Protestlerin, die gegen Politiker ebenso wettert wie gegen die Windräder, die ausgerechnet vor ihrer Tür gebaut werden sollen. Ein Prachtmonolog für Gabriela Maria Schmeide, von Juli Zeh eigens für diese Inszenierung geschrieben. Oder er findet sich in einem irrwitzigen Dialog mit Sancho Pansa. Hier lässt Diedrich Diederichsen die beiden um Bedeutungsbenen von Namen ringen. „Ich bin der Don der Tat“, sagt Quijot. „Du bist hier, um zu handeln – damit man sich was erzählt, was man nicht glauben kann“, entgegnet Pansa.
Zwei Stunden ohne Pause dreht sich die Bühne Stück für Stück – ein ruckelnder Globus. Barbara Ehnes hat darauf ein optisch flirrendes, wunderbares Universum geschaffen. Keine Perspektive gleicht der anderen: Durchblicke öffenen sich, Projektionen überblenden einander, Rampen durchschneiden Spielflächen – mal Ufo, mal Teich, mal Grotte, mal Kapelle, mal Schlucht … Das Wandern durchs ihn umrasende Gewirr macht Don Quijote kotzen. Er legt die liederliche Rüstung schnell ab, setzt die Brille auf, um alles genau beobachten zu können. Zum Beispiel seinen Sancho, der im Schlaf entrückt neben ihm zu schweben scheint. Diesen folgsamen Mops, dem Bruno Cathomas so herzvoll seinen Körper leiht. Dieser Simpel („Ich kann doch nicht lesen!“), der so mitreißend den Mond ansingt, einfach mitwandert, aber doch auch treibt. Er stachelt seinen Don in entscheidenden Momenten zu neuen Taten an, etwa wenn der in Roland Schimmelpfennigs Textpassage in der Klapse unter Psychopharmaka gesetzt wurde.
Den goldenen Ritter (Daniel Lommatzsch als feiger Schnacker), der über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung plappert, schlägt Sancho in die Flucht. Birte Schnöink als Vorderteil des Pferdes Rosinante, unerreichbar hoch auf der Klippe, ist voll des herzzerreißenden Lobes auf den einsamen Ritter. Und immer wieder mischen sich Carsten „Erobique“ Meyer und Ben Schadow als klavier- und gitarrenbewehrte Mariachis ins Spiel. Sie säuseln adäquat melancholisches Liedgut, mal als Kommentar zum Geschehen, mal als Tröster vom Rande („Ihr seid nicht allein. Wir helfen euch.“).
Und auf der langen Reise des melancholischen Helden („Alles zu seiner Zeit! Alles zu seiner Zeit!“) begegnet uns natürlich auch die angebetete Dulcinea von Toboso. Der Frau, für die der Don so viel wagt, gibt Patrycia Ziolkowska vielerlei überzeugend hartes Gesicht. Immer ist sie irgendwie entrückt, mal als stolze Kastilianerin in schwarzer Tracht, mal als unberührbare Madonna im Strahlenkranz (schönste Kostüme von Annabelle Witt). Als diese monologisiert sie analytisch mit Ginka Steinwachs, die sich philosophisch sachlich mit der Figur des 400 Jahre alten Ritters im Geiste auseinandersetzt.
Angesichts der ins Wissenschaftliche abdriftenden Beurteilung seiner Person entschließen sich Don Quijote und Sancho Pansa, auf dem (Holz-)Pferd in den Bühnenäther zu entschweben. Doch auch in den Lüften reißt der Strom ideeller Visionen nicht ab. Die beiden finden kein Ende. Sie kehren zur Erde zurück. Ihre Zukunft liegt nicht im vergeistigten Entschweben oder einem Leben im Schäferidyll, sondern im Tun. Helden aus der Literatur sterben nicht. Sie leben uns etwas vor.
Text: Oliver Törner
Foto: Torre Aqua c/o Scheune