Theater kann anstrengend sein, wenn man die Worte, die gesprochen werden, nicht versteht, und parallel zum türkischen O-Ton der deutschen Übertitelung zu folgen versucht. In K2 auf Kampnagel hatte „Herr Dragacar und die goldene Tektonik des Mülls“ Premiere, das Mosaik der Geschichte einer Gruppe von Müllsammlern aus Istanbul. Das Theaterprojekt von Rimini Protokoll ist eine Produktion von Garajistanbul im Rahmen von Istanpoli 2010 (u.a. in Zusammenarbeit mit der Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010). Entstanden ist eine Metamorphose; zu sehen ist das Protokoll davon. Aus Männern, die in der Kulturhauptstadt Istanbul gewohnt waren, Müll zu sammeln, um ihre Familien zu ernähren, werden Männer, die auf der Bühne von ihrem Leben erzählen, und davon, wie das ist, in Istanbul Müll zu sammeln. Und wie einer überhaupt dazu wird.
Herr Dagacar, einer der Müllsammler, sagt: „Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich.“ Das sagen Eltern überall auf der Welt. Aber die Welt des Müllsammlers ist anders. Sein Sohn rief ihm einmal zu: „Papa, werf mich nicht auf den Müll.“ (Herr Dragacar wähnte ihn tot wie die anderen Kindern, die am Virus starben und die er ins Massengrab warf.) Und dann war er selbst doch auch einmal Kind. Wir hören Geschichten aus dem Dorf, der Familie, den Cousins, vom Schulbesuch, von den Steine-Wurfspielen auf trockener Erde, vom Schatzsuchen als Hütchenspiel, von der Übersiedelung in die Hauptstadt, um Geld zu verdienen, von den Depots, in denen sie sich nachts treffen, um den gesammelten Müll zu sortieren.
Stück für Stück setzt sich im Laufe des Abends, teils beklemmend, teils komisch, das Bild nicht nur einer Berufsbranche zusammen, von der hierzulande wohl mancher nichts ahnte, sondern auch das Bild einer Gesellschaft, die wie überall mit kapitalistischer Okkupation weniger Großer gegen viele Kleine zu kämpfen hat.
Die Theatralisierung der Vor-Ort-Recherche wird dabei zum Perspektivwechsel: Während die Müllsammler von ihrem Leben mit den Bodenschätzen erzählen, als drängten persönliche Lebensläufe auf Veränderung, melden Erdbeben-Observationszentren tektonische Daten aus den Provinzen der Türkei, als ließen sich Bewegungen objektivieren, und ein Karagöz-Spieler verführt mit seinen Schattenpuppen zu einem poetischen Blick auf die Welt, ganz ohne als ob. Rimini Protokoll vertraut in „Herr Dragacar“ auf die Ursprünglichkeit seiner Protagonisten, die sich unterdessen genau davon entfernen. Am Ende geben sie auf der Bühne Schauspieler, die einmal Müllmänner gewesen sein könnten. Und wenn Herr Dagacar sagt, er würde lieber jeden Tag sein Leben auf der Theaterbühne spielen, als sein Leben jeden Tag zu leben, dann glaubt man ihm das gern. Theater ist vielleicht doch nicht so anstrengend.
Nächste Vorstellung: Samstag, 25. Februar, 20 Uhr, K2. Mit: Abdullah Dagacar, Aziz Idikurt, Bayram Renklihava, Mithat Içten und dem Karagöz-Spieler Hasan Hüseyin Karabag.
Text: Stephanie Schiller
Foto: Rimini Protokoll