Kritik / Tanz & Performance

Rauschen

Sasha Waltz & Guests auf Kampnagel
Rauschen

Es ist wirklich ein Kreuz: Die Botschaft geht im „Rauschen“ unter

Text: Dagmar Ellen Fischer / Foto: Julian Röder

„I read the news today, oh boy“. Diese erste Zeile des Beatles-Songs „A Day in the Life“ eröffnet den Abend musikalisch. Wenn man den Text des Liedes versteht und hinterher den folgenden Satz im Programmzettel liest – „RAUSCHEN beschäftigt sich mit einer Gesellschaft, der in den Kulissen ihres perfekten Lebensraumes die Welt abhanden gekommen ist“ – könnte man eine Verbindung herstellen.

Das ist im Verlauf des Abends noch mehrmals möglich: Die Ankündigungen des Textes im Programmzettel liefern einige Anregungen, was sich das Publikum beim Betrachten der Performance denken könnte: „Es geht um den Einzug des Digitalen in fast all unsere Lebensbereiche. (…) Wo bleiben die echten zwischenmenschlichen Begegnungen? (…) Und wo liegt der Horizont eines global vernetzten Lebens, das von der Dialektik flüchtig empfundener Statusmeldungen und tatsächlichen, digitalen Footprints geprägt ist?“

Das sind Fragen, die sich sicher einige Menschen stellen, wenn sie vielleicht auch nicht ein so poetisches Wort wie „Horizont“ dabei mitdenken. Doch mit dem, was auf der Bühne rund 90 Minuten lang passiert, haben solche Gedanken recht wenig zu tun.

Zu sehen sind eine Reihe mehr oder weniger origineller Ideen, die möglicherweise vom formulierten Gedankengut inspiriert sind, aber auch von gänzlich anderen Inhalten motiviert sein könnten. Will sagen: Die Choreografie ist bis zu einem gewissen Grad beliebig und setzt auf Effekte.

Wenn sich beispielsweise einige Protagonisten ihre transparenten Papierkleider mit Wasserschläuchen vom Körper spritzen, bis sie nackt und nass dastehen, könnte das auch als Kritik an sexistischen Werbemaßnahmen interpretiert werden oder aber als Warnung vor Billigprodukten der Textilindustrie durchgehen.

Sobald sich ein Tänzer in den geringen Raum zwischen einer Matratze und deren Plastikverpackung zwängt, könnte man bedeutungsvoll ein bestimmtes Konsumverhalten infrage stellen – stattdessen fragt man sich, wie zum Teufel der arme Kerl unter dieser Folie immer noch atmen kann.

Der Abend ist eine Abfolge unspezifischer Szenen, die Anleihen bei Pina Bausch und dem Action Painting machen und sogar eine Referenz ans Beethoven-Jubiläumsjahr parat haben (die Akteure summen „Freude, schöner Götterfunken“). Breakdance-Technik, standardisiert einrastendes Lächeln und mechanisierte Bewegungen, die Tanzende wie Roboter aussehen lassen, geben zu verstehen, dass hier die o. g. Fragestellung behandelt wird, wo denn die echten, zwischenmenschlichen Begegnungen bleiben. Die auf der Bühne gegebene Antwort lässt nicht lange auf sich warten: „Ich bin leider nicht erreichbar“, sagt eine Alexa- oder Siri-Stimme. Danach hätte das populäre „Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich“ nicht unbedingt Not getan, illustriert akustisch indes noch einmal die Vereinsamung des Menschen im digitalen Zeitalter und ist damit ausnahmsweise ganz nah an den Aussagen des Programmhefts. Apropos Aussage: Auch die zwölf Tänzer sprechen, doch sind diese Texte nicht nur deshalb schlecht zu verstehen, weil durch unterschiedlichen Akzente geprägt, sondern auch, weil sie naturgemäß tanzend außer Atem geraten.

Überraschend dann das (deutlich zu lange) Finale: Barbusige in langen schwarzen Röcken, deren Stoff auch als Peitsche genutzt wird, lassen den Abend mit wirkungsvoller Nacktheit ausklingen – irgendwo zwischen ambitionierter Archaik und der Gewissheit, Sex sells.

„Rauschen“ ist ein würzig angerührter Tanztheater-Eintopf.

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