Text: Birgit Schmalmack | Foto: Li Yan
Europa lässt sich aus der Innen- und Außenperspektive begutachten. Die Lessingtage 2013 versuchten beide innerhalb von zwei Wochen einzunehmen. Unterschiedlicher hätten die Sichtweisen kaum sein können.
Die deutschen Produktionen widmeten sich weitgehend dem Bekannten. Ihre Themen waren Freiheit, Bindungslosigkeit und Migration. Gleich die Thalia-Premiere zur Eröffnung des Festivals zeigt das Leben eines berühmten europäischen Vorreiters der sexuellen Freizügigkeit und der westlichen Eventkultur: „Don Giovanni“ in der Lesart des jungen Regisseurs Antu Romero Nunes. Sie geriet zum rauschenden Fest, das sich auf den gesamten Zuschauerraum ausdehnte. Das Gastspiel aus Berlin „Kill your darlings“ schilderte ausgiebig und Pollesch-like das heutige Lebensgefühl einer Facebook-Generation. „Die Protokolle von Toulouse“ berichteten schmucklos von den Ausrottungsplänen eines europäischen Islamisten. Das waren interessante Theaterabende, aber letztlich nur das Beiprogramm für den eigentlichen Anspruch dieses Festivals, auch neue Sichtweisen zu präsentieren. Damit überraschten dann besonders die Stücke aus Griechenland, Slowenien und Lettland.
Der lettische Regisseur von „Schwarze Milch“ Alvis Hermanis ließ als erprobter Gastregisseur auf deutschsprachigen Bühnen bei allen kritischen Anmerkungen den Unterhaltungswert nicht zu kurz kommen. Wie das untergegangene Atlantis mutet diese Welt auf dem Lande an, von der die dick eingepackten Menschen in Gummistiefeln und wattierten Jacken auf ihren Holzbänken erzählen. Nur die Natur und die Tiere bestimmen ihren Tagesablauf. Um den Reiz der Tiere auch für Großstädter nachvollziehbar werden zu lassen, lässt der Regisseur die Kühe von Frauen in High-Heels und Blumenkleidern mit tiefen Dekolletes mit überdimensionierter Oberweite spielen. Zum Schluss hängen die Kuh-Frauen ihre Nasen über Gläser mit schwarzer Milch. Bei Hermanis wird sie zu einem Symbol für Unglück und Trauer über das Verlorene.
Dagegen setzten die Arbeiten aus Griechenland und Slowenien eher auf die Erschütterung ihrer Zuschauer. Deutlich spürbar wurden dadurch die Verzweiflung und die Wut, die sie als Stimmungsbilder aus ihrem Land mit nach Hamburg brachten. Eine tiefe Zerrissenheit zeigte „Verdammt sei der Verräter der Heimat“ von Oliver Frljic. Frijic glaubt an keine einfache Wahrheiten und Lösungen mehr. Er zeichnet ein Ex-Jugoslawien, in dem alte Sicherheiten weggeschossen, alle früheren historischen Wahrheiten als Lügen enttarnt, alle einstigen Verbrüderungen zu Kriegs-Feindschaften mutiert und alle wirtschaftlichen Grundlagen durch einen Turbo-Kapitalismus zerstört sind. Das Enfant terrible des slowenischen Theaters operiert zum Durchrütteln aller Beteiligten gerne mit Überraschungen jeder Art: Provokationen, Nacktheiten, Beschimpfungen, Fäkalsprache und Erschießungen. Hilflosigkeit, Ohnmacht und Perspektivlosigkeit spricht aus dieser Szenencollage aus dem Ex-Jugoslawien nach Tito. Ein verstörender Beitrag aus Europa.
Auf der Suche nach Antworten trabt „Don Quixote“ durch eine verdörrte Landschaft. Das Athener Theaterkollektiv Blitz hat eine surreale Apokalypse auf der Bühne entstehen lassen. Nur Zerstörung kann heutzutage Platz machen für eine neue, bessere Welt, so scheinen es die zitierten Sprüche Tarkowskis, Dostojewskis und Meinhofs zu suggerieren. Sehr stark geprägt von einer Weltuntergangsstimmung, die keine Hoffnung für die Gegenwart kennt, hinterließ das Athener Gastspiel die Zuschauer.
Auch die Welt außerhalb der EU zeigte sich bei den Lessingtagen 2013 eher von ihrer düsteren Seite. Beim „Attentäter“ aus China von Lin Zhaohua geschah dies aus historisierender, symbolisch aufgeladener, streng formalistischer Perspektive – beim „Circo Ambulante“ aus Moskau sehr viel anspielungsreicher und anregender, sowohl in inhaltlicher wie künstlerischer Hinsicht. Die großen Themen des Lebens wurden in dem skurrilen Theaterfantasien eines Andrey Mogutchiy und Maxim Isaev alle zugleich angesprochen. Dazu bedienen sie sich einer Bildervielfalt, die schier überwältigt. Die kupferfarbenen Schlote zeugen auf ihrer Vorderseite mit ihren giftigen ausströmenden Dämpfen von einer Endzeitstimmung und zeigen nach einer 180-Grad-Wendung, dass die Menschen in ihnen leben müssen. Dann werden sie zu Einrichtungsgegenständen ihrer Wohnungen und Arbeitsplätze. Jeder mag die kritischen Anmerkungen erkennen, die er zu sehen glaubt. Ein raffiniertes Theaterspektakel der hintergründigen Art.
Die diesjährigen Lessingtage zeigten mit ihren Produktionen eine weit aufklaffende Schere innerhalb Europas. Die Einen neigen dazu, in ihren Ego-Eventkulturen fortwährend um sich selbst zu kreisen, und die Anderen fühlen als hilflose Opfer und Verlierer von Identität und Heimat. Hier ein Wir-Gefühl zu entwickeln, erfordert viel Verständnis und Einfühlung jenseits von Euro-Stabilitätsdiskussionen. Das machten die Schlaglichter der Lessingtage dieses Jahr überdeutlich. Europäisches politisches Theater lebt, wenn auch wohl eher außerhalb der Wohlfühlzone des deutschsprachigen Raumes.