„Wunderland“ von Cilli Drexel vom Nationaltheater Mannheim.
Text: Birgit Schmalmack | Foto: Tobias Steffen
Das Festivalpublikum war sich einig: Dieses Jahr wurde noch mehr geboten. Die Organisation war noch professioneller geworden, die eingeladenen Produktionen zeigten fast durchgehend hohes Niveau, die allabendlichen Publikumsgespräche im trauten Sitzkreis im Festivalzentrum waren sehr gut besucht und boten oft angeregte Diskussionen bis spät in die Nacht.
Regisseurin Cilli Drexel nahm sich die Textfläche Wunderland von Gesine Dankwart vor. Das soll unser Wunder-Traum-Land sein? Die Vier auf der Bühne auf dem Lilienteppichboden und vor dem goldenen Vorhang sind ratlos. Die meiste Zeit verbringen die professionellen Selbstinszenierer mit Warten oder Rennen. Doch Warten worauf? Und Rennen wohin? Dankwart hat ein Mosaik der heutigen Gesellschaft gezeichnet, der vorgegaukelt wird, dass jeder es bis ganz nach oben schaffe könne, der sich nur genug anstrenge. Sie zeigt eine Welt, in der einzig das Geld den Wertemaßstab bestimmt. Hier zählt nur das Ich, das als Überflieger meint, die Welt erobern zu können und sich jäh auf den Fußboden hingestürzt wiederfindet.
Das Nationaltheater Mannheim schafft es mit den vier wandlungsfähigen Schauspielern (Katharina Hauter, Michaela Klamminger, Martin Aselmann, Klaus Rodewald) aus den vielstimmigen Endlos-Monologen ein höchst aktuelles Drama über unsere kapitalistische Welt zu machen.
Ganz anderes wagte Sarah Kortmann von den Landungsbrücken Frankfurt: „Acht Jahre haben wir kein ernstes Wort miteinander gesprochen.“ An diesem Satz aus Ibsens Nora hängt sie ihre Inszenierung des Klassikers auf: Bei ihr wird tatsächlich bis zum Ausbruch Noras kein Wort gesprochen. Sie lässt alle Personen wortlos ihre Geschichte erzählen. Dass dies gelingt, ist der großartigen und genauen Textarbeit des Ensembles zu verdanken. Die Hintergründe der Personen werden einzig über lautmalerische Äußerungen, körperliche Zustände und typische Handlungen ausgedrückt. Nora ist das Ballett tanzende, dauergrinsende Püppchen, ihr Mann Thorvald der heile Welt spielende, autoritäre Machoehemann, Krogstadt der servile, gerissene Gläubiger und abservierte, verletzte Liebhaber und Frau Linde die vom Leben gebeutelte, aber pragmatische, emanzipierte Geschäftsfrau. Erst ganz zum Schluss versuchen sie die Kommunikation mit Worten. Fast meint man, dass sie auch darauf hätten verzichten können: Außer dem Austausch von Floskeln haben sie sich nicht viel zu sagen, wahres Verstehen hört sich anders an. Eine mutige Arbeit, die sich auf ganz neues Terrain wagte.
Dass das politische Theater keineswegs tot ist, bewies ein kleines Off-Theater: Die Produktion V wie Verfassungsschutz vom Nö-Theater aus Köln kommt genau zur rechten Zeit. Denn in Zusammenhang mit dem NSU-Prozess wurde viel über das Versagen des Verfassungsschutzes spekuliert. Doch wie soll man eine Organisation erklären, die per definitionem im Geheimen arbeitet? Akribische Recherche seit den 68-ern steuerte viele historische Fakten bei. In Spielszenen erlauben sich die drei Schauspieler um Regisseur Janosch Roloff, mit ihrer Fantasie ein paar Geheimnisse zu lüften. So wird die Beziehung zwischen V-Mann und Anwerber zum Flirt mit dem Feind. Als braune Pappkameraden-Kette hängen die 140 V-Leute bald unter der Decke. Faktenreiches Theater, das sich traut, klare Positionen zu beziehen.
Ans performative Philosophieren wagt sich Alexander Eisenach. Es beginnt surreal im Foyer: Zwei Frauen in geblümten Overalls sichern sorgfältig die Beweisstücke eines Verbrechens. Zwei Etagen darüber geht die Suche nach der Wahrheit dann weiter. An einer langen Tafel sitzen sich die beiden Frauen (toll: Sarah Franke und Janine Kreß), nun in strengen Hosenanzügen, gegenüber. Mit expressiver Körpersprache, die Anleihen an Monty Python verrät, kommen sich die Frauen allmählich auf die Fährte. Geschickt wird auch der Zuschauer von Regisseur Alexander Eisenach mit in die scheinbare Auflösung des Kriminalfalles hingezogen. Doch nur um ihn plötzlich mit ganz anderen Fragestellungen zu konfrontieren: Wie viel deiner Vergangenheit ist dir wirklich bewusst? Existieren auch in deinem Hirn schwarze Löcher, in denen ein Teil der Erinnerung verschwindet? Was ist Zeit? Ist sie umkehrbar? Könntest du dich anders entscheiden, wenn dir deine Zukunft schon bekannt wäre? Schwarztaxi Inside vom Centraltheater Leipzig ist ein wahnsinnig toller, intelligenter Abend über das Sein und das Nichtsein, der so virtuos mit allen Theatermitteln spielt, dass er die Zuschauer zu hochphilosophischem Nachdenken verführt, noch bevor sie es recht mitbekommen haben.
Auch wenn Kaltstart äußerst erfolgreich lief und für gefüllte Reihen im Kulturhaus 73 sorgte; um die finanzielle Situation des Hauses steht es schlecht. Doch Geschäftsführerin Sarah Thielacker ist davon überzeugt: Die Schanze braucht dieses Haus. Das III&70 will die Kraftanstrengung wagen und sein Programm noch konsequenter auf Kultur ausrichten. Deshalb wird es ab September eine eigene Theatersparte geben. Dafür werden die diesjährigen künstlerischen Leiter des Kaltstarts Pro Anne Schneider und Tim Egloff verantwortlich zeichnen. Die Kostprobe ihrer Arbeit, die sie mit dem Festival 2013 geliefert haben, war äußerst vielversprechend. Schanze soll mehr sein als Piazza, Party und Rote-Flora-Nostalgie. Dazu braucht es das III&70 und viele Kulturinteressierte.