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Rückblick auf die Privattheatertage 2015

Ich werde nicht hassen

Gewinner in der Kategorie Zeitgenössisches Drama: „Ich werde nicht hassen“

Text: Birgit Schmalmack / Foto: Regina Brocke

Die vierten Privattheatertage sind zu Ende, die Sieger der verschiedenen Kategorien – Komödie, zeitgenössisches Drama und moderne Klassiker – sind gekürt. Die Reihen waren gut gefüllt. 90% Prozent Auslastung über zwei Wochen konnte Festivalleiter Axel Schneider vermelden. Was hatte die neunköpfige reisende Jury dieses Jahr ausgesucht, um das Beste der deutschen Privattheaterszene nach Hamburg zu bringen?

Plötzlich sitzt der Tod in „Willkommen in deinem Leben“ auf dem Beifahrersitz. Charly Cox muss sich damit auseinandersetzen, dass seine Lebenszeit bald zu Ende ist. Im Angesicht des Todes wird ihm schlagartig bewusst, wie jämmerlich sein Leben bis hierhin gewesen ist. Keinen Traum hat er sich erfüllt, nie hat er die große Liebe getroffen, und nie ist er ein Risiko eingegangen. Ein hölzernes Schaukelsofa vor Wüstenkulisse, ein stetig kreisender Ventilator und ein paar schäbige Sessel – mehr braucht das Theater Ravensburg nicht, um die allegorische Geschichte um den Tod und das Leben auf die Bühne zu bringen. Bei aller Doppelbödigkeit vergaß die Ravensburger Bühne unter der Regie von Karsten Engelhardt den Unterhaltungsanspruch nie. So viel wurde sicher selten über den Tod gelacht! Das Publikum nahm die hintergründige Komödie zur Eröffnung der Privattheatertage im Altonaer Theater mit begeistertem Applaus auf.

Er lebt im größten Gefängnis der Welt, aber mit Meerblick. Der palästinensische Arzt hatte seit frühester Jugend ein Ziel, das er beharrlich verfolgte: Er wollte statt mit Waffen mit Bildung für die Zukunft seines Landes kämpfen. Doch seine Zielstrebigkeit wird im Laufe seines Lebens auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Jedes Passieren der Grenzen seines Gefängnisses „Gaza“ wird zu einer Übung in Kompromissbereitschaft, Unterwürfigkeit und Toleranz. Während des letzten Gaza-Bombardements erlebte er mit, wie drei seiner Töchter von Bomben zerfetzt wurden. Dennoch hat er sich fest vorgenommen: „Ich werde nicht hassen!“ (Gewinner in der Kategorie Drama). Nach den persönlichen Erlebnissen und biografischen Aufzeichnungen des Arztes Izzeldin Abuelaish hat Ernst Konarek am Theaterhaus Stuttgart einen eindrücklichen Monolog inszeniert. Er legt mit einer persönlichen Geschichte den Finger in eine leider immer noch sehr aktuelle politische Wunde. Mit Standing Ovations feierte das Publikum in den Hamburger Kammerspielen die Leistung des Schauspielers Mohammad-Ali Behboudi, der mit seinem Spiel für ein authentisches Theatererlebnis sorgte.

Der Journalist, der seinerzeit über Verschwinden eines 12-jährigen Mädchens berichtet hatte, wittert eine große Geschichte, die seine bisherige Erfolglosigkeit endlich beenden soll. Nach sechs Jahren ist es wieder aufgetaucht. Das Mädchen willigt in eine Interviewserie ein und erzählt ihm von ihren sechs Jahren mit dem Entführer. Der Journalist sucht eine Story. Das Mädchen sucht einen Freund, und der Entführer suchte Liebe. Wechselseitige Bedürftigkeiten der Drei erschaffen Abhängigkeiten, die Regisseur Dieter Nelle mit seinen drei Schauspielern von Münchner Teamtheater Tankstelle in „Fast perfekt“ genau beleuchtet. Keine überflüssige Dekoration lenkt vom Fokus auf die Verstrickungen des sich verdichtenden Beziehungsgeflechtes ab. Wer wird die Kontrolle über die Geschichten behalten, die erzählt werden? Die eine Wahrheit gibt es nicht. Ein überaus dichter, vielschichtiger Theaterstoff von Nicole Moeller, der sensibel mit drei hervorragenden Darstellern auf die Bühne gebracht wurde.

Familie Flöz zeigte bei ihrem Hamburger Gastspiel „Haydi!“ (Gewinner in der Kategorie Komödie) anlässlich der Privattheatertage eine bis ins letzte Detail ausgefeilte Arbeit. Jeder Strich der Graphic Novel inspirierten Filmeinspielungen stimmte, jede Kostümierung entlarvte den dargestellten Charakter, jeder Handgriff der drei Schauspieler bei ihrer Verwandlung in eine der zahlreichen Rollen saß, jede Kopfdrehung des von ihnen geführten Puppenkörpers belegte die Dramatik der Handlung. Es sollte eine anspruchsvolle Produktion werden, die all den namenlosen Opfern der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik ein Gesicht geben wollte. Doch in ihrem Willen, die Ignoranz von Asylbeamten zu thematisieren, geriet ihnen ihr eigentliches Anliegen allzu oft in den Hintergrund: Zu viel Spaß hatten sie an ihrer Verballhornung des Büroalltags à la Stromberg und Co. Schade, dass sie ihrem Publikum nicht mehr Tiefgang zutrauten.

Zum Schluss lebt in „Maria Magdalena“ (Gewinner in der Kategorie Klassiker) nur noch einer: Karl, denn er ist derjenige, der sich aus dem Gefängnis der Spießigkeit, der Enge und der Konvention befreien konnte. Alle anderen hatten nicht den Mut, sich gegen die Tradition zu stellen. Verständlicherweise, denn für stetige Überwachung war gesorgt. Immer steht jemand hinter dem Fenster mit Blick in die karge Wohnstube, selbst der Tod beendete die Überwachung durch die Mutter nicht. Der Geist der strengen Erziehung bleibt für Klara, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Karl nicht befreien kann, immer präsent. Überall hängen Mikrophone von der Decke. Kein Gedanke ist hier mehr frei. Die Inszenierung aus dem Stuttgarter Studio Theater war ungewohnte Kost für den Spielort der Komödie Winterthurer Fährhaus. Ein Stück, das den Rahmen der Privattheatertage erneut erweiterte, und zwar um eine anspruchsvolle Klassiker-Inszenierung, die auf jede Publikumsanbiederung verzichtete.

Der Hamburger Beitrag aus dem Lichthof Theater hob den Anspruchspegel noch einmal: Autor Björn Bicker hat in seinem preisgekrönten Stück Deportation Cast“ die verschiedenen Perspektiven eines Falles geschickt miteinander verwoben. Nicht nur zwei Familien stehen sich auf der Bühne gegenüber, sondern auch die Sachbearbeiterin der Ausländer-Behörde, der Anwalt der Familie, die Frau einer Flüchtlings-NGO und der Flug begleitende Arzt kommen zu Wort. Regisseur Harald Weiler vom Theater Lichthof macht die Verschränkung in seiner Inszenierung mit nur vier Schauspielern und vielen schnellen Rollenwechseln sehr deutlich. Anhand eines Einzelfalles werden die übergeordneten Fragen konkret. Wie darf ein Land wie Deutschland mit seinen Asylanten umgehen? Sind die Einschätzungen der Behörden so objektiv, dass sie Abschiebungen rechtfertigen? Wie gehen die betroffenen Menschen mit diesen Behördenentscheidungen um? Dürfen die Einheimischen dabei tatenlos zu gucken oder sogar mithelfen? Einfachen Antworten verweigert sich das kluge Stück, diese muss der Zuschauer selber finden.

Die Privattheatertage spiegeln die Vielfältigkeit der Privattheaterszene in Deutschland wieder. Von klamaukträchtigem Boulevard über hochkonzentrierte Klassikerinszenierungen bis zu aktuellem, politischem Theater war alles dabei. Doch wo die Vielfalt zum Motto wird, sinkt für die Zuschauer die Vorhersehbarkeit des gebuchten Theaterabends, auch im Hinblick auf das Anspruchsniveau. Wie bei anderen Festivals einfach das Programmheft aufschlagen und einen Abend auswählen, das könnte bei den Privattheatertagen zu einer Enttäuschung führen.

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