Text: Birgit Schmalmack | Foto: Birgit Hupfeld
Kaltstart hielt dieses Jahr einige erfreuliche Neuerungen bereit: Erstmalig hat ein spartenübergreifendes Team für verschiedene Teilgruppen des Festivals ein gemeinsames Konzept erstellt. So bildete das Finale dieses Mal die Klammer für den Anfang und den Schluss. Die Sturmflut flutete am ersten Wochenende in stündlichem Wechsel das gesamte Kulturhaus, und die Autorenlounge fand am zweiten Wochenende statt. Da passte es gut, dass es dieses Jahr nur eine Spielstätte gab: Das Kulturhaus 73 mit drei Bühnen und einem Festivalzentrum im Zwischendeck.
Der Erfolgsroman von Wolfgang Herrndorf „Tschick“ fehlte auch dieses Jahr nicht. Das Schauspiel Essen lässt die beiden Jungen Könige im eigenen Leben sein. In Samtanzügen gekleidet und mit Krönchen auf dem Kopf fliegen sie auf ihrem geflügelten Thronsessel in eine goldene Realität mitten im normalen Alltag. Sie beschließen in den Sommerferien, mit einem geklauten Lada in die Walachei aufzubrechen. Dort kommen sie natürlich nie an, aber erklimmen trotzdem Berge (wenn auch aus Müll), stehen vor Abgründen und begegnen dem einen Prozent der Menschheit, vor dem ihre Väter sie nicht gewarnt hatten. Sie erleben Sonnenuntergänge, das Wunder des Sternenhimmels und den Wahnsinn des Staunens und Entdeckens. Regisseurin Jana Milena Polasek hat ein liebevolles Roadmovie in Szene gesetzt, in dem sie auch die leisen Töne auf den Punkt genau erarbeitet hat.
Doku-Theater vom Feinsten lieferte „Brothers in Arms“. Auf der Bühne sind die Fronten klar voneinander abgegrenzt. Eine Metallwand steht zwischen den sechs Männern und zwischen den beiden Zuschauertribünen. In einfachen Jeans und weißen T-Shirts fehlen jede Zugehörigkeitskennzeichen. Die Männer fangen an zu sprechen, und es wird klar: Die Metallwand zwischen ihnen symbolisiert die unüberwindliche Grenze zwischen Iran und Israel, die jeden Austausch verhindert. Die sechs Schauspieler sind für ihr gemeinsames Projekt in die zwei Länder gereist und haben dort Interviews mit Soldaten geführt. Aus diesem Material hat Ana Zirner mit ihrer Satellit Produktion ein erhellendes, politisches Theaterstück gemacht. Es beleuchtet die Konstruktion von Feindbildern, die für den Aufbau von Armeen gebraucht werden. Männerbünde, Männerkonkurrenz und Männerhierarchien werden sichtbar – stets als Instrument der Staatsräson. Einer der Höhepunkte des Festivals!
Beim Gastspiel „Die Reise nach Petuschki“ des Wiener Burgtheaters war der Andrang groß. „Ich bin so nüchtern“, sagt Wenja (Daniel Sträßer) zum Schluss. Und das obwohl er ein passionierter Trinker ist, der am liebsten über die beste Art des perfekt portionierten Alkoholkonsums philosophiert. Völlig desillusioniert sitzt er dann mit seiner ermatteten Gefährtin Jasna Fritzi Bauer, die alle weiteren Rollen spielte, auf den zwei Campingstühlen. Die Burgtheaterinszenierung von Regisseurin Felicitas Braun ist betont schlicht. Statt Marmorsaal in Wien in Hamburg nur eine schwarze leere Bühne. Ein Overheadprojektor, ein Grill und viele, viele Flaschen müssen reichen. Wenjas Dauerrausch wirkt fast wie Nüchternheit. Diese Abgeklärtheit hat einen Nachteil: Sie überträgt sich auch auf die Zuschauer. Vielleicht hätte Braun die am Ende herumgereichte Flasche früher anbieten sollen?
Auch die Inszenierung von Staatstheater Kassel „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ sorgte für volle Reihen. Der weiße Rahmen auf dem Boden der Bühne, in dem ein weißer Kreis aus unbeschriebenen Blättern ausgestreut ist, machte es deutlich: Die Grenzen zur Erfaltung sind für den Angestellten Propistschin (Christoph Förster) sehr eng gesetzt. Damit die Zuschauer sich einfühlen können, wie schnell man unter diesen Bedingungen irre werden kann, lässt sie Regisseur David Czesienski 21 Minuten zusehen, wie dieser kleine schwitzende, verschüchterte Herr Mustermann mühsam die Blätter auf dem Boden in völlig sinnlose, kleine Stapel sortiert, die er am Schluss alle aufeinanderwirft. Der mutige Regieeinfall lohnte sich: Wenn Propistschin sich zum Schluss vom Publikum als vermeintlich neuen König feiern lässt, erscheint sein Irrewerden an der Konformitätsgesellschaft nach der intensiven, anstrengenden Einfühlungsphase fast logisch.
Heiner Müller fordert heraus. Auch in seiner Bearbeitung der „Gefährlichen Liebschaften“ als „Quartett“. Dieser Herausforderung stellen sich die beiden Schauspielstudenten Johanna Dähler und Simon Labhart von der Hochschule der Künste Bern. Herausgekommen ist ein hochprofessionelles Spiel mit dem Text, das ihn ganz durchdringen will und dabei ihn und sich selbst konsequent hinterfragt. Diese Ehrlichkeit im Umgang mit sich, der Sprache und den Figuren erschafft eine Authentizität, die in dieser Intensität und Offenheit ungewöhnlich ist. Sie brechen die vierte Wand auf und beziehen das Publikum souverän in ihre Suche nach der Seele ein. Ist sie ein Muskel oder eine Schleimhaut? Bei keiner der möglichen Antworten gibt es Zustimmung. Also werden spontan ein C und ein D erfunden. Ein toller Abschluss der Kaltstart-Pro-Sparte, der zeigt, zu welch neuen Perspektiven gerade junge Theatermacher in der Lage sind.
Die klar definierte Gesamtleitung durch Anne Schneider und Melanie Schwarz hat sich bezahlt gemacht: Ein Festival, das nicht nur zehn Tage voll jungem Theater bot, sondern auch eine nahezu perfekte Organisation. Von Kaltstart keine Spur mehr! Wenn es so weitergeht, dann ist das Festival auf dem besten Wege, seinen charmanten Style aus Chaos, Improvisation und Unfertigem zu verlieren.