Text: Dagmar Ellen Fischer | Foto: Oliver Fantitsch
Angst lähmt. Im Fall der New Yorkerin Sylvia Gellburg bleibt es nicht beim psychologischen Phänomen, es strahlt aus: Eine Lähmung befällt ihre Beine, und für das Symptom gibt es keine erkennbare organische Ursache. Eine Forschungsreise in geheimnisvolle seelische Abgründe könnte helfen – doch wer tritt die freiwillig an?
Arthur Miller in „Broken Glass“, deutsch „Scherben“, seinem vorletzten Drama. Der 80-jährige Autor, Pulitzer-Preisträger und Sohn jüdischer Einwanderer schrieb es 1995, als sich der Sieg über den deutschen Faschismus zum 50. Mal jährte. Er verlegt die Handlung nach Brooklyn ins Jahr 1938, als die New York Times von Pogromen gegen Juden in Deutschland berichtet und Fotos von alten gebrechlichen Männern zeigt, die mit einer Zahnbürste den Kurfürstendamm in Berlin schrubben müssen, umringt von höhnisch lachenden Nazis. Sylvia sieht diese Bilder, liest die Meldungen – und sie ist ohnmächtig, sie kann auf der anderen Seite des Atlantiks im wahrsten Sinn des Wortes nicht Aufstehen gegen das Unrecht.
Doch kommt bei Arthur Miller ein Desaster selten allein. Die Jüdin Sylvia, verheiratet mit dem Immobilienmakler Phillip, gab für die Ehe ihre berufliche Karriere auf, akzeptierte eine von ihr verachtete militärische Laufbahn des gemeinsamen Sohnes und stellt jenseits der Lebensmitte fest: „Ich kann mich in meinem Leben nicht wiederfinden.“ Ihr Mann wird von einem Selbsthass getrieben, der sich gegen alles Jüdische richtet und schließlich beruflichen Erfolg zerstört und privates Glück verhindert.
Der Handlungsrahmen des zweistündigen Dramas ist damit nur grob abgesteckt. Denn unzählige Nuancen im Dialog, fatale Verstrickungen und individuelle Unfähigkeiten bestimmen letztlich das Leben der Beteiligten: Henry Arnold als Phillip ist überzeugend als radikaler Republikaner und cholerischer Zweifler; sein Gegenspieler ist Dr. Harry Hyman, zunächst Arzt seines Vertrauens für Sylvia, dann Rivale um die Gunst seiner Frau – Steffen Gräbner spielt den ebenfalls jüdischen Lebemann und Nebenbuhler großartig in seiner Vitalität. In der Rolle der Sylvia gelingt Isabella Vértes-Schütter die berührende Darstellung einer Frau, die um ihre enorme Stärke und tiefe Verletzlichkeit weiß, beides indes nicht in eine lebbare Balance bringen kann. Regisseur Yves Jansen inszenierte mit großer Ruhe, die am Premierenabend eine fast kontemplative Konzentration im Publikum bewirkte. Peter Schmidt gestaltete die Bühne des Ernst Deutsch Theaters in unschuldigem Weiß und mit klaren Linien sehr zurückhaltend. Im beruhigten, neutralen Ambiente wirkt das Spiel der Akteure und Arthur Millers Sprache umso nachhaltiger: „Man schiebt alles vor sich her, als hätte man noch tausend Jahre zu leben …“
Ernst Deutsch Theater, bis 9.11. tgl. 19:30 Uhr, So. auch 15 Uhr
Karten 18 bis 37 Euro, Tel. 22 70 14 20