Text: Hans-Peter Kurr
Wer niemals aus einem 700-Seiten-Roman, einem russischen notabene, eine Bühnenfassung verfertig hat, noch dazu aus zwei unterschiedlichen Übersetzungen (Swetlana Geier und Hermann Röhl), weiß wohl kaum die mühevolle Arbeit zu schätzen, die Karin Henkel und ihr Dramaturg Christian Tschirner hinter sich gelassen haben, bevor die Verlebendigung dieser Fassung auf einer Bühne überhaupt begonnen werden konnte.
Herausgekommen ist ein erster, höchst bemerkenswerter Abend mit dem Titel „Schuld“ (nach Dostojewskijs „Schuld und Sühne“), der jetzt im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses Premiere hatte. Zunächst nur ein erster Teil, weil wegen der Umbaukatastrophe im Haupthaus für den Malersaal umproduziert werden musste. Der zweite mit dem Titel „Sühne“ soll später auf der Hauptbühne folgen.
Dieser knapp zweistündige Abend endet mit dem Eröffnungs-Verhör des Mörders Raskolnikow durch den Polizeikommissar Porfiri Petrowitsch, ergo wird der nächste dem zweiten der zahlreichen Verhöre und – wahrscheinlich – zum größeren Teil der harmonisierenden und entsühnenden Verbindung Raskolnikows mit Sonja gewidmet sein, die ihm in das schnee- und frostreiche Sibirien folgt. Das Wort „wahrscheinlich“ ist hier deshalb angebracht, weil Karin Henkel mit einer zunächst ebenso schwer nachzuvollziehenden wie glänzend gedacht und realisierten Überraschung aufwartete: Bei ihr gibt es die Person Raskolnikow und die der Sonja und aller anderen nur phasenweise, das Ensemble der acht ungewöhnlichen Schauspieler stellt stets alle Figuren gleichzeitig dar, was zu Beginn irritiert und verwirrt, sich im Laufe des Abends aber auflöst, wenn der Zuschauer die Grundauffassung zu begreifen die Chance hatte: In uns allen ist die Anlage für sämtliche Figuren Dostojewskijs…
Auch szenisch geschieht Überwältigendes: Den Pferdetraum beispielsweise mit Darstellern zu illustrieren oder die ermordete Aljona und ihre Schwester Lisaweta durch blutüberströmte Skelette zu zeigen. Aber das alles würde kaum reichen, dieser Bühnenfassung die bewegende innere Kraft zu verleihen, jene Kraft also, die sich kaum durch den Intellekt beschwören lässt, sondern nur durch den künstlerisch-intensiven Griff einer höchst fantasiereichen Regisseurin wie der Henkel nach einer tragenden Figuration herbeizuzaubern ist. Das Programmheft zeigt keine Rollenaufteilung mit den Namen der Menschendarsteller, sie alle bilden ein äußerst homogenes Ensemble.
Weitaus Wichtiger: Was die Kraft ihrer Wortmagie, das gebundene Pathos und die gesellschaftskritische Hymnik angeht, kann Henkels Inszenierung die höchsten Erwartungen erfüllen. So wurde denn auch diese Premiere zu Recht mit Jubelpfiffen dankend akzeptiert.