Text: Birgit Schmalmack | Foto: Peter Hönnemann
Der Eröffnungsabend machte schon klar, warum es Festivalleiter András Siebold dieses Jahr beim Sommerfestival auf Kampnagel ging: Seine vorgestellten Produktionen sollten dem Zuschauer optisch viel zu bieten haben und durch ihre hohe Professionalität in der technischen Umsetzung beeindrucken. Chilly Gonzales zeigte in „Shadow“ Andersens Märchen als Schattentheater mit großem Orchester. Mit ausgefeilter Bewegungschoreographie im Stile eines Stummfilms wurde aus der abgründigen Parabel, die vom Verlust der Identität und der Ambivalenz der eigenen Existenz handelt, eine wunderschöne Bildoberfläche.
„The Season“ war da noch konsequenter: Die Liebe zwischen einem Bär und einem außerirdischen roten Puscheltier – das ist das Thema von „The Season“. Das klingt eher nach Sesamstraße als nach einem Programmpunkt des Sommerfestivals auf Kampnagel. So bescherte das familientaugliche Musical von Socalled in der Kinderbuchästhetik dem Publikum eine Stunde unbeschwerte Unterhaltung.
Auch Kid Kaola hat in seiner Bühnenfassung seines wortlosen Comics „Nufonia Must Fall Live“, der eine Liebesgeschichte zwischen einem Roboter und einer Technikerin erzählt, den Weichzeichner eingesetzt. Von Puppenspielern geführte, weiße Puppen agieren mit Live-Soundtrack in schwarz-weißen Bühnenbildkästen. Das ist technisch faszinierend umgesetzt, reduziert den Inhalt aber auf einen simplen Plot und reicht nicht an die düstere Atmosphäre der ursprünglichen Graphic Novel heran, die viel Platz für Andeutungen und Geheimnisvolles ließ.
Die Show „Wellness“ von Florentina Holzinger und Vincent Riebeek spielte mit den Fragen der Oberflächlichkeit, der Schönheit und des Erfolgs um jeden Preis. Dabei bedient sie sie ausgiebig, um sie nebenbei auch hinterfragen zu wollen. Eine Hohepriesterin treibt die vier Tänzer über ihr Headset an. Diese geraten nicht nur sinnbildlich in Ekstase. Wie die Mutter Gottes lässt sich die Tanz-Priesterin in die Luft erheben und speist die mittlerweile nackten Tänzer mit Öl aus ihren Brüsten, das als Gleitmittel für die nächsten ekstatischen Übungen dient. In einem Techno-Tempel aus Beats, Licht, Nebel und Blitzen schwinden die Sinne, bis sie von ihrer Schlangenbeschwörerin in den Staub der roten Erde gestoßen werden. Den Kampf um die Aufmerksamkeit hat „Wellness“ so ganz sicher gewonnen. Nackte Haut und Erotik gehen schließlich immer.
Miss Revolutionary Idol Berserker verschrieb sich in „Noise and Darkness“ noch gezielter dem Mittel der totalen Reizüberflutung. Sie feuert mit ihrem jungen Ensemble eine geballte Ladung von Sinneseindrücken auf die Zuschauer ab. Zwischen dauerflimmernden Riesenleinwänden marschieren im rasanten Wechsel die Idole der Vergangenheit und Gegenwart auf. Als wenn mehrere TV-Kanäle gleichzeitig laufen würden, überlagern sich die Musikeinlagen, die Tanzchoreographien und Dramen, die sich auf der Bühne abspulen. Dabei werden alle Mittel eingesetzt, um in dem Gewirr der Eindrücke für Aufmerksamkeit zu sorgen. So wird dieser Abend zu einem klug komprimierten Abbild einer jungen Gesellschaft, die mit Geschichte und Geschichten überschüttet, mit Technik eingedeckt, von Traditionen eingeengt und von Eventgier angetrieben wird.
Michael Clark, der kanadische „Punk-Choreograph“, zeigte sich auf dem Sommerfestival vergleichsweise zahm. Er lässt seine Tänzer wie gut geölte Tanzroboter das strenge Bewegungsvokabular des Balletts zu den Songs der Ikonen der Rockgeschichte wie den Sex Pistols oder den Sissors abspulen. Ein Abend, der das Ballett selbstironisch in die Popkultur einbettet.
Überambitioniert dagegen „Haunted by wars“: Diese Uraufführung erzählt in Düsternis und meist völliger Stille von den Kriegen, an denen Europa im letzten Jahrhundert beteiligt war. Die Tänze der überfallenen Völker werden vorgeführt und sinnbildlich durch die Kriegshandlungen zum Erstarren gebracht. Die Choreographin Eszter Salamon wollte ein großes Projekt auf die Beine stellen. Akribisch hat sie die Kriege des letzten Jahrhunderts und die Tänze der betroffenen Völker recherchiert. Doch dem Abend fehlt leider genau die Emotionalität, die dem Tanz zu eigen ist und den Zuschauer berühren könnte. Sein pädagogisch moralischer Zeigefinger ist zu offensichtlich. So wurde aus dem spannenden, wichtigen Ansatz ein Abend, der die Zuschauer überfordern musste.
Wie technische Perfektion mit diskursiver Inhaltsvielfalt verbunden werden kann, zeigte Rimini Protokoll in „Situation Rooms“. Jeder wird im Verlauf dieser Reise durch die Räume, die in der Kampnagelhalle aufgebaut sind, einmal zu einem Waffenhändler, zu einem Friedensaktivisten oder zu einem Arzt ohne Grenzen. In jedem der Räume, durch die ihn ein iPad navigiert, begegnet er in insgesamt zehn Geschichten einer neuen Perspektive auf die Geschäfte, die mit dem Krieg geführt werden. Ein Abend, der die Kriegsgeschäfte sehr dicht an die Besucher und Betrachter heranholt und niemanden ungerührt lassen kann.
Dass perfektes Timing mit inhaltlicher Überfülle einhergehen kann, bewies Mariano Pensotti in „Cineastas“: Wie sich Realität und Fiktion verzahnen, bedingen, beeinflussen und ergänzen, zeigt er auf der Bühne mit den zwei offenen Ebenen anhand der rasant verschnittenen Lebens- und Filmgeschichten von vier Filmschaffenden. Während oben immer neue Kulissenelemente für die jeweilige Filmebene aufgebaut werden, ist die untere dem wahren Leben der Filmschaffenden vorbehalten. Die Sicht auf die Welt ist schließlich so von ihrer medialen Präsentation geprägt und verändert, dass die Fiktion realer erscheint als die Realität. Wie das in die Irre führen kann, beweist der überraschende Schluss.
Zwischen all diesen grandiosen Projekten waren es die kleinen Produktionen, die besonders zu berühren vermochten. Yasser teilt sein Leben in ein Davor und ein Danach: Der Kopfschuss, den ein Heckenschütze im Alter von 17 Jahren in Beirut auf ihn abschoss, veränderte sein Leben schlagartig. Nun erzählt er seine Geschichte, oder das, wozu der Abend „Riding on a cloud“ unter der Regie seines Bruders Rahib Mroué sie gemacht hat. Es ist eine bewegende Arbeit über die Macht der Bilder und der Wörter geworden. Und über einen starke Persönlichkeit, die sich das Verstehen wieder zurückerobert.
Auch „The Bee Treasure“ von der Tanzinitiative Hamburg verlässt sich auf die ganz leisen Töne und zarten Berührungen. Hier wird das übliche Muster umgekehrt und Erwachsene werden von Kindern geführt. Mit Augenbinden bekommen sie Zutritt gewährt in den „Secret garden“ der Kinder. Wer das Glück hatte zu dem erlauchten Kreis der Eingelassenen zu gehören, erlebte Sinneseindrücke, die im Kontrast zum übrigen Programm wie auf Samtpfoten daherkamen und vielleicht gerade deswegen umso mehr beeindruckten.
Siebolds Konzept ging wunderbar auf: Fast alle Aufführungen waren so gut wie ausgebucht. Der Event- und Sensationscharakter seiner geschickten Stückeauswahl, die von einem großen, sehr vielseitigen musikalischen Rahmenprogramm von Schlager über Funk, Folk, Heavy Metal, Rock und Pop begleitet wurde, zog sehr viele Hamburger an. Schade, dass Ästhetik, Aufwand und Perfektion der Produktionen nur selten mit Tiefgang des Verhandelten verknüpft wurden. So gab es dieses Jahr viel gut gemachte Unterhaltung zu sehen, aber sie bot leider wenig Raum für anregende Fragen und Gedankenanstöße, die über Allgemeinplätze bei gutbürgerlichen Partygesprächen hinausgehen.