Text: Christian Hanke / Foto: Oliver Fantitsch
Nil wartet in einem Bahnhof auf Züge, die nicht fahren, und liegt doch nach einem epileptischen Anfall im Koma in einem Krankenhausbett, in dem ein Kontrabaß unter der Bettdecke liegt. Filmregisseurin Nesrin Samdereli („Almanya – Willkommen in Deutschland“) arbeitet in ihrem ersten Theaterstück „Träum weiter“, das kürzlich im Ernst Deutsch Theater uraufgeführt wurde, mit Szenen und Bildern, die unwirklich erscheinen und doch die wahren Zustände ihrer Figuren verdeutlichen.
Nil, eine begabte Malerin, begegnet in dem Bahnhof ohne Züge Menschen aus ihrem Leben, ihrem ersten Freund Patrick, ihrer Kunstlehrerin Frau Schaad, ihrem Großvater Dede, der sich in Frauenkleidern wohlfühlt. Der Bahnhof, so sehen wir, steht für ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod, den Nils Gäste wieder verlassen. Sie bleibt. Ihr Überleben ist ungewiss.
Im Krankenhaus kämpft ein allmächtiger Chefarzt in Frauenoutfit um das Leben der jungen Nil. Assistiert von einer betont gelangweilten Krankenschwester, die sich mehr für ihre Fingernägel als für Patienten interessiert. Am Krankenbett rivalisieren außerdem Nils getrennt lebende Eltern im ständigen Dauerclinch um Verantwortung und Fürsorge für ihr Kind. Sie: körperbewusste Türkin, er: ganz patriotischer Grieche. Hinzu kommt Nils frühere Lebensgefährtin Nora aus wohlhabendem Hause, eine Feministin, die sich von schlechtem Gewissen geplagt für Ausgegrenzte engagiert. Nil, so wird immer deutlicher, fühlt sich wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe und ihrer Kunstwerke ausgegrenzt, von ihren Eltern, die in herkömmlichen Vorstellungen weiblicher und männlicher Identitäten verhaftet sind, nicht akzeptiert. Ihr Koma erscheint als eine selbst gewählte Flucht aus einem unerträglich gewordenen Leben.
Nesrin Samdereli verarbeitet in ihrem Bühnen-Erstling eine ganze Reihe von Themen wie selbst bestimmtes Leben, Migration und ihre Folgen, Homosexualität und Transsexualität, insbesondere im Kontext mit Migrantenkulturen, zeigt, dass es Lebensformen abseits der Norm auch in nicht-westlichen Kulturen immer gegeben hat.
Dabei kann sie Klischees nicht immer vermeiden, findet aber einen mit schrägem Humor angereicherten unterhaltsamen und vor allem emotional sicheren Weg, um ihre Themen zu transportieren, den Mohammad-Ali Behboudi im passenden Bühnenbild von Eva Humburg behutsam in Szene gesetzt hat. Rana Farahani überzeugt als Migrantenkind zwischen den Welten ebenso wie Katharina Pütter in der Rolle der manisch helfenden Bürgertochter Nora. Mit feiner Überzeichnung glänzt das medizinische Team, insbesondere Oliver Warsitz als blond gelockter transgenderiger Chefarzt neben der wundervoll lustlosen Krankenschwester von Sina-Maria Gerhardt. Allzu plakativ wirken dagegen oft die Elternkämpfe um die im Koma liegende gemeinsame Tochter von Karime Vakilzadeh und Dimitri Tellis.
Am Ende siegt kraftvoller Mut zum Risiko, von dem man nur träumen kann. „Träum weiter“ wird zum kämpferischen Appell zur Lebensrettung. Und ein Engel (Sophie Spendel) hält ein ums andere Mal die Wacht.
Aufführungen bis 19. September im Ernst Deutsch Theater