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Vergil und Augustus

Hamburger Sprechwerk
Vergil und Augustus

Star-Schauspieler Matthieu Carrière mimt im Sprechwerk den sterbenden Vergil

Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Hamburger Sprechwerk

In der Geburtstunde des europäischen Theaters in der griechischen Antike gab es zunächst nur einen solistischen Darsteller, so lehrt uns die Theatergeschichte, den so genannten Protagonisten. Später „erfanden“ zunächst Sophokles und Aischylos den Gegenspieler, mit dem ein Dialog geführt werden konnte, den so genannten Deuteragonisten. Nach diesem System hat die fantasiebegabte Regisseurin Lydia Spiekermann bei ihrer aktuellen Bühnenfassung des Hermann-Broch-Romans „Der Tod des Vergil“ gearbeitet, die jetzt Premiere im Hamburger Sprechwerk hatte.

Diese aktuelle Fassung ist gegenüber der seit 2012 vorliegenden heftig ausgedünnt und deshalb erheblich schwerer verständlich als die letztgenannte, in der der Knabe Lysanias eine ebenso gewichtige Rolle als Deuteragonist spielt wie zwei Freunde des römischen Dichters, Plotius Tucca und Lucius Varius, bevor der bereits durch Eigeninitiative vergöttlichte Kaiser Augustus als eigentlicher Gegenspieler die Szene betritt, um dem sterbenden Vergil dessen großes Werk, die „Aeneis“, zu entreißen, die jener zu verbrennen gesonnen ist. Der Dialog zwischen Vergil und Augustus ist von beeindruckender philosophischer Tiefe, wie stets in den Werken des genialischen Hermann Broch.

Plotia, die fiktive schöne Frau, wird hier durch die Sängerin und Tänzerin Vera Tavares dargestellt, musikalisch geschickt vom Anri Danielian auf dem Wind Controller, einem Synthesizer zum Anblasen, begleitet . Hans-Jörg Frey als Augustus ist, wenngleich nur in einer langen Szene, als qualifizierter und erfahrener Bühnenschauspieler erkennbar, der gesamte übrige Abend gehört dem naturalistisch, weil sterbend monologisierenden Star Matthieu Carrière, der offensichtlich in seinen späten Jahren zur Mutter aller Medien, zur Theaterbühne, zurückkehren möchte. Regie und Theaterleitung erlagen der Versuchung, einen Weltstar zu präsentieren, der die schwierigen Brochtexte zwar qua Intelligenz zu durchleuchten, aber mit seiner Bühnenpräsenz nur noch begrenzt zu transportieren imstande ist. Manchmal haucht er die Textur derart, dass es bereits in der ersten Reihe des Auditoriums Verstehprobleme gibt, im Bemühen, Vergils letzte Stunden glaubhaft naturalistisch darzustellen. Honi soit qui mal y pense!

Der Typ Mensch, der die Geduld aufbringt, die wir bei Augustus nicht erkennen können, einen sterbenden Freund zu begleiten, wird durch die Todesforscherin Elisabeth Kübler-Ross genial beschrieben: „Der Anblick eines sterbenden Menschen erinnert an einen fallenden Stern, an einen unter Millionen Lichtern. Er flackert auf und verschwindet in der ewigen Nacht. Der Therapeut eines sterbenden Menschen wird sich bewusst, wie einmalig jedes Individuum im weiten Meer der Menschheit ist. Wir sehen unsere Grenzen, unsere enge Lebensspanne …“ Noch schöner drückt es ein anderer großer Dichter aus, sozusagen ein Broch-Vordenker, Rabindranath Tagore:

„Das Wasser im Gefäß funkelt,
das Wasser der Seele ist dunkel.
Die kleine Wahrheit hat klare Worte;
die große Wahrheit hat großes Schweigen!“

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