Zwei Wochen lang lieferte das Kaltstart-Festival Theater satt. Ein paar Neuerungen hatten die Organisatoren sich für dieses Jahr ausgedacht. Jeden Tag gab es im „Echolot“ kurz vor Mitternacht für das Publikum die Möglichkeit, mit wechselnden Festivalbeobachtern und den Machern das Gesehene zu reflektieren. Ein großer Gewinn für ein Festival, das sich Networking auf die Fahnen geschrieben hat.
Die „Fringe“-Produktionen wurden dieses Jahr in den Open-Air-Bereich verlagert. So konnten eventuelle Qualitätsschwankungen der letzten Jahre sauber von den übrigen Arbeiten getrennt werden. In der Sparte „Kaltstart Jung“ gab es dieses Mal nur zwei Aufführungen. Ob dafür eine einzelne Sparte Sinn macht, darf bezweifelt werden. Die auch dieses Jahr gut besuchte „Autorenlounge“ stellte zu zwei Terminen neue Theatertexte vor. Als große Inszenierungssparten blieben „Kaltstart Pro“ und das „Finale“.
Im Finale startete die „Salamitaktik – ein lustiger Abend“. Der Titel ließ die Zuschauererwartungen sprießen. Um es gleich vorweg zu sagen: Regisseur Martin Grünheit erfüllt genau diese nicht. Sein Humor sucht zu sehr die absurden Momente, um klamaukkompatibel zu sein. Er schneidet den „Revisor“ von Gogol in kleine Salamischeiben, um diese genüsslich in Einzelbestandteile zu zerlegen und neu abzuschmecken. Seine Bürgergesellschaft, die hier vom Revisor begutachtet werden soll, entlarvt sich durch ihre verschwörerische Panik und anheischende Unterwürfigkeit selbst. Sie nimmt nicht nur ihr Pappdorf auseinander, sondern tauscht auch bunte, aufgemotzte Bürgerkostüme gegen entblößende Plastikfolienkleider. Große aufgerissene Augen, abgehackte Sprechweise, exzessive Körperlichkeit und eine dezidierte Gruppenchoreographie sind nur einige der spannenden Stilmittel, die Grünheit verwendet. Keine einfache Aufgabe für die Schauspieler. Doch besonders die männlichen Darsteller schafften es, die Absurditäten ihrer Rollen zur Geltung bringen.
Die Performance „Corpus Militaris“ des Mehrsichttheaters Braunschweig ist von klarer Ästhetik und stringentem Formwillen geprägt. Eine Frau steht im Scheinwerferkegel. Ihr weiß geschminktes Gesicht wirkt wie eine Maske, ihr rotes Kostüm wie eine hochgeschlossene Uniform. Zu den Klängen, in denen immer wieder laute Einschläge und einzelne Gesprächsfetzen zu hören sind, bewegt sie sich wie ein ferngesteuerter Roboter. Abgehakte Bewegungen, Verharren in einer Stellung, schnelle Drehungen, Einklappen des Körpers, Wegducken, Hinfallen.
Christian Weiß betritt ganz in Schwarz die dunkle Bühne. Mit einer Stablampe fährt er sich wie mit einem Scanner über den Körper. Wenn Verena Wilhelm dieses Element in ihren Tanz später mit aufnimmt, wird es noch dynamischer eingesetzt. Wie im Suchscheinwerfer werden ihre Bewegungen nur kurzfristig sichtbar. Eindrucksvoll auch die Sequenz, wenn sie eine Holzpuppe mit raschen, mal zärtlichen, mal gewalttätigen Handstreichen ganz nach ihrem Willen formt. Als Weiß‘ Gesicht hinter ihr auf der Rückwand erscheint, beginnt ein Schattenspiel, in dem die kleine Frau den raumfüllenden Kopf mit winzigen Gesten manipulierend verdrängt. Die Textteile, die Weiß vorträgt, fokussieren die Thematik des Abends: Der ideale Kampfanzug von morgen offenbart die Entmenschlichung bis zur Kleidungsebene, und die Armeewitze legen eine makabere Humorfolie über das gezeigte Grauen. Doch noch faszinierender und vereinnahmender ist Verena Wilhelms Tanz. Assoziationen überströmen den, der ihr zuschaut, unmittelbar. Eine atemberaubende Arbeit!
Die Produktion „Sauerstoff“ kam von den Frankfurter Landungsbrücken nach Hamburg. Alex kommt aus der Provinz in die Großstadt und verliebt sich dort in die rothaarige Alex. Er spürt sofort, dass sie den „Sauerstoff“ hat, den er in seinem Leben so dringend benötigt. Er stürzt sich mit einer solchen Unbedingtheit in die Möglichkeit einer Begegnung mit ihr, dass jede Frage nach Moral zweitrangig wird.
Es gibt auf der Bühne eine „Sie“ (Isabelle Barth) und einen „Er“ (Karl Walter Sprungela), doch ob dies tatsächlich Alexandra und Alexander sind, blieb bis zum Schluss unklar. Denn Iwan Wyrypajews Stück „Sauerstoff“ schlägt viele gedankliche Kapriolen. Es ist ein wuchtiger Text, der kaum ein Thema auslässt. Gott, Umwelt, Werte, Liebe, Sex, Religion, zu allen gibt Er das Stichwort vor, und Sie steigt in die Wortschlacht mit ein. Von ihren beiden roten Podest-Standpunkten aus streiten sie sich wortgewaltig und inhaltsschwer. Hinter ihnen thront die göttliche DJane in ihrem kurzen Nonnenkleidchen und startet zum Einstieg in jedes der zehn Kapitel einen kurzen Techno-Track. Die großartigen Schauspieler schleudern ihre messerscharfen Sätze mit so großer Präzision und Energie hin und her, dass die Spannung über neunzig Minuten auf höchstem Niveau gehalten wird. Jubelnder Applaus des Festival-Publikums!
In der ersten Woche konnte man denken, dass die künstlerischen Leiter Falk Hocquel und Timo von Kriegstein dieses Jahr nur die sicheren Nummern eingeladen hatten. Häufig standen ein bis drei Leute auf der fast leeren Bühne, die in guter klassischer Theatertradition interessante Geschichten erzählten. Doch in der zweiten Woche wurden die Theaterformen vielfältiger. Jetzt waren auch Arbeiten zu sehen, die mehr Mut zum Spiel und Experiment bewiesen. Performance, Tanz und Textcollagen forderten die Zuschauer zum Mitdenken. Das war auch dem „Finale“ zu verdanken, das ab der zweiten Woche in den Zeisehallen mitspielte. Insgesamt waren es zwei prall gefüllte Theaterwochen auf sehr hohem Niveau, die das Kaltstart-Team 2012 nach Hamburg geholt hat.
Text: Birgit Schmalmack
Foto: Kaltstart