Eine Familie steht am Bühnenrand, als sich der Vorhang zur ersten Premiere in der neuen Saison öffnet: Die Eltern Beth und Christopher sowie ihre drei Kinder Ruth, Daniel und Billy, alle im jungerwachsenen Alter, klammern sich aneinander, vermitteln den Eindruck, nicht auseinandergehen zu wollen. Am Ende des Stückes dasselbe Bild. Dazwischen viel Zoff. In Nina Raines Drama „Sippschaft“, dessen deutschsprachige Erstaufführung das Ernst Deutsch Theater zeigt, wird gestritten, gelästert, gemaßregelt und provoziert. Eine heutige Intellektuellenfamilie am Abgrund, so scheint es.
Der Vater ein sprachverliebter Schriftsteller, die Mutter schreibt an ihrem ersten Roman, beide von den 68er-Zeiten geprägt. Tochter Ruth versucht sich als Opernsängerin, Sohn Daniel, gerade nach gescheiterter Beziehung ins Elternhaus zurückgekehrt, schriftstellert ebenfalls. Und dann ist da noch Billy, der taubstumme zweite Sohn, den seine Eltern wie ein nicht behindertes Kind mit Lautsprache erzogen haben, die er sehr gut beherrscht.
Billys Geschichte wird zum roten Faden des Stücks. Er verliebt sich in Sylvia, die taubstumme Eltern hat und langsam ihr Gehör verliert. Billy bricht aus seiner Familie aus, fühlt sich zu Hause unverstanden und genervt von den Egoismen der Eltern und Geschwister. Er entdeckt die Umgebung anderer Gehörloser als neue Sippschaft. Sylvia bringt ihm die Gebärdensprache bei, in der er sich demonstrativ bei der Familie auskotzt. Die Eltern sind schockiert, und auch die Geschwister, insbesondere Daniel, empfinden Billys Abrechnung mit der Familie und seinen Auszug als herben Verlust. Daniel, der großkotzige Sprücheklopfer, Zyniker und Lästerer, beginnt wieder zu stottern. Die „Sippschaft“ ist gefährdet. Die junge britische Autorin Nina Raine findet, dass Familien sich wie Stämme verhalten. Der Originaltitel ihres Stückes aus dem Jahr 2010 lautet folgerichtig „Tribes“. Und Billy hält dem Stamm schließlich die Treue: Er kehrt in den Schoß der Familie zurück.
Peter Hailer inszenierte „Sippschaft“ unspektakulär mit einem guten Schauspielensemble. Die Entdeckung ist Eyk Kauly in der Rolle des Billy, ein taubstummer Schauspieler, der sein Handwerk meisterhaft versteht. Intendantin Isabella Vértes-Schütter passt sich als Mutter Beth bestens ins Ensemble ein. Gelungener Saisonauftakt.
Text: Christian Hanke
Foto: Oliver Fantitsch