Text: Dagmar Ellen Fischer
Wir in Hamburg werden beneidet. Um die vielen Bäume in der Stadt. Und um die Vielfalt der Theaterlandschaft, die ähnlich wächst wie der Baumbestand, wenn auch nicht ganz so bunt und saisonal blühend. Und nicht zuletzt um das größte Sprechtheater Deutschlands, das unter der Intendanz von Karin Beier im Sommer nun in die zweite Spielzeit geht. Mit bemerkenswerten Premieren und Uraufführungen, die wir hier detailliert vorstellen wollen.
John Gabriel Borkman von Henrik Ibsen
Regie: Karin Henkel, Premiere: 21.9.2014
Tief gefallen ist John Gabriel Borkman, ehemaliger Bankdirektor und Unternehmer. Seit seiner Rückkehr aus dem Gefängnis, in dem er wegen Veruntreuung von Geldern einsaß, lebt er mit seiner Frau Gunhild und dem Sohn Erhart im Haus seiner Schwägerin Ella, die er einst liebte, aber für seine Karriere preisgab. Borkman selbst verbarrikadiert sich im oberen Teil der Wohnung, Gunhild lebt unten, jeglicher Kontakt zwischen den Eheleuten ist abgebrochen. Eines Abends kommt die sterbenskranke Ella zu Besuch, die Erhart als Kind zu sich nahm und ihn nun als letzten Begleiter an ihrer Seite wünscht. Aber Gunhild hat ihre eigenen Pläne mit dem Sohn, ebenso wie sich Borkman eine zweite Chance von ihm erhofft. Und so soll Erhart all diese verfehlten Leben erlösen, dabei will er doch nur sein eigenes Glück finden. »John Gabriel Borkman« erzählt auf grotesk komische Weise von der Überforderung einer Generation, die wieder gut machen soll, was vor ihr angerichtet wurde.
Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger
Regie: Karin Beier, Uraufführung: 21.9.2014, Text »Strahlende Verfolger«: Elfriede Jelinek
Pfeffersäcke im Zuckerland – Eine Menschenausstellung
Der Hamburger Kolonisations-Verein von 1849, von bedeutenden hanseatischen Kaufmännern und Reedern gegründet, betrieb den Ausbau des Auswanderergeschäftes mit Brasilien. Mitten im Urwald wurde die deutsche Kolonie »Dona Francisca« (das heutige Joinville) geschaffen. Heute lebt dort die sechste Generation dieser Migranten. Was bestimmt ihre Identität? Wird sie national, ethnisch oder transkulturell begriffen? Ein Theaterabend auf Basis von Recherchen und Interviews.
Strahlende Verfolger von Elfriede Jelinek
„Warum ist er ausgewandert? Warum ist er jetzt woanders?“, fragt Elfriede Jelinek und geht dem deutschen Wesen auf den Grund, diesmal in der Fremde, „in, sagen wir: Brasilien“. Als Beitrag für Karin Beiers Brasilien-Inszenierung hat Jelinek einen neuen, furiosen Text geschrieben.
New Hamburg auf der Veddel – Festival vom 3.10. bis 25.10. 2014
Ein Stadtprojekt von Björn Bicker, Malte Jelden und Michael Graessner
Am 3. Oktober ist es so weit: In und um die Immanuelkirche auf der Elbinsel Veddel öffnet NEW HAMBURG seine Tore und lädt ein, die Chancen und Herausforderungen einer zukünftigen Stadtgesellschaft zu verhandeln. Theater. Politik. Kunst. Musik. Diskurs. Begegnung. Drei Wochen offizielle und inoffizielle Feierlichkeiten. Mit dabei: Alte und neue Veddeler Bürger, ein interkommunales Tanzorchester, Ankommende aus aller Welt, Spezialisten des Abwegigen und des Normalen, das NEW HAMBURG Stadttheater, Wissenschaft und Religion, Begegnungskünstler und politische Aktivisten.
Wassa Schelesnowa von Maxim Gorki
Regie: Dieter Giesing, Premiere: 17.10.2014
„Ich muss eben alles allein machen“, stellt die Mutter und Chefin einer Flussreederei nüchtern fest. Ihr Mann hat sich nicht im Griff, ist der Kinderschändung angeklagt, der Ruf der Firma und die Existenz der Familie stehen auf dem Spiel. Mit harter Hand greift Wassa, die „Eiserne“ (von Scheleso – Eisen), in der Wirtschaft und in den privaten Beziehungen durch. Ihrer Schwiegertochter Rachel, die als Revolutionärin im Exil lebt, macht sie Kolja, Rachels Kind, gnadenlos streitig. Die Maxime des unerbittlichen Kampfes um Eigentum hat Maxim Gorki zunächst 1910 – nach der ersten russischen Revolution – und dann noch einmal 1935 zum Zentrum seiner großen Familientragödie gemacht. Die Widersprüche der Moderne gehen wie ein Riss durch die Familie der Unternehmerin Wassa Schelesnowa, dieser ambivalenten Frau, die Gorki mit viel Gespür für die menschlichen Abgründe und Begierden sowie das selbstverantwortete Leiden gestaltet hat.
König Artus – Ein Sagengespinst von Rittern, Zauberern, Prinzessinnen und Schurken
für Menschen ab 8 Jahren von Markus Bothe, Regie: Markus Bothe, Uraufführung: 8.11.2014
Dunkle Zeiten: England ist vom Krieg bedroht, kein König regiert, jeder kämpft nur für das eigene Überleben. Da ist schon ein Wunder nötig, um das Land zu retten. Der junge Artus träumt davon, dass irgendwann alles besser wird, zum Beispiel davon, dass sein Stiefbruder Kaye und sein Stiefvater Hector ihn nicht immer verprügeln. Sein Leben ist ziemlich grau – bis der Zauberer Merlin auftaucht und die Abenteuer beginnen. Auf dem gemeinsamen Weg durch eine von Zerstörung bedrohte Welt findet Artus Dinge, die jenseits seiner bisherigen Träume liegen: neue Freunde, gefährliche Feinde – und er findet zu sich selbst.
Welt-Klimakonferenz von Rimini Protokoll
Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel (Rimini Protokoll), UA: 21.11.2014
Anfang Dezember 2014 lädt Perus Hauptstadt Lima zur nächsten internationalen Klimakonferenz. Vertreter von über 190 Nationen werden dort im ausklingenden »Jahr der Ambitionen« zusammenkommen, in Paris soll ein Jahr später der nächste Schritt folgen – hin zu einem rechtlich verbindlichen Klimaabkommen? Dieses Drama der Mammutdiplomatie zum Schutz der Erdatmosphäre und damit der Zukunft unser aller Leben lässt sich in einzelne Akte, Szenen, Haupt- und Nebenschauplätze gliedern – und genau das wird Rimini Protokoll gemeinsam mit internationalen Experten und Schauspielern des Ensembles tun. In ihrer fiktionalen Welt-Klimakonferenz im Schauspielhaus werden die Strukturen, Hintergründe und Hauptkonfliktlinien, wie sie sich in den jährlichen Klimakonferenzen abzeichnen, in einem interaktiven Format erlebbar. Die Zuschauer werden zu Teilnehmern der „Klimakonferenz“ und können in dieser Simulation von Weltpolitik in die Rolle der einzelnen Länder und Interessengruppen eintauchen.
Rocco Darsow von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Uraufführung: 7.12.2014
Wenn Schauspieler auf der Bühne den Liebesbegriff von Adorno diskutieren, ihn auf sich selbst projizieren und dabei in einer Kunstwelt zwischen Filmkulisse und Boulevard-Theater agieren, weiß man, dass man in einer echten Pollesch-Inszenierung ist. Immer wieder findet René Pollesch neue und alte Diskurse aus Philosophie und Kulturtheorie, mit denen er unser Leben befragt. Unnachahmlich sind seine wundervollen Sprach-Pirouetten und die Spielweise, die er mit seinen Schauspielern entwickelt. Mit »Rocco Darsow«, seiner ersten Inszenierung unter der Intendanz von Karin Beier, setzt René Pollesch seine Arbeit am Deutschen Schauspielhaus fort.