Text: Angela Dietz / Foto: Ellen Coenders (Bearbeitung: Claudius Strack)
Vielstimmigkeit ist das Herausragende der Triebwerk-Inszenierung von Goethes Werther in der Regie von Nina Mattenklotz. Im Mittelpunkt: Das menschliche Herz, Werthers Herz, romantisch, anatomisch, philosophisch und musikalisch.
Auf der Bühne ist das anatomische Herz zu sehen, als eine von innen in wechselnden Farben leuchtende Riesen-Installation. Lena Hiebel hat ihm netzartige Wände gegeben, ein Adern-Gewirr, durch das das Blut rauscht und aus dem Lotte einzelne Kabel-Fäden herauszieht. Das Licht von Sönke C. Herm wechselt wie Werthers Stimmung. „Ein Leben ohne Herz ist nicht möglich“, heißt es zunächst nüchtern.
Auf der Bühne sind mindestens zwei Ausgaben von Werther: Heiko Sellhorn und Uwe Schade sowie Lisa Grosches Lotte. Jeder von ihnen deutet, erkundet und spielt mehrere Schichten der Figuren aus. Das geht bis zur völligen Distanzierung, bis zur Aggression gegen die Figur Werther, und wieder zurück zur Verschmelzung.
Sellhorn kommt dieses Mal ganz ohne den gewohnten Kontrabass aus. Er spielt stattdessen mit den Fingern Vibraphon auf einem Tablet und nimmt Schades Cellospiel und die Worte, die Stimmen des Schauspieler-Trios am Mischpult auf und lässt sie als Loop und Sample wiederkehren.
Gleich zu Beginn fragt Grosche mit dem Mikro in der Hand einzelne Zuschauer, ob sie ihr Herz ihr geben würden. Der Herzschlag will rhythmisch nicht auf Anhieb passen, in der Musik nicht und nicht zwischen Menschen. Und dann harmoniert der eigene plötzlich mit jemandem. Hier passt er zur musikalischen Vorstellung der Schauspielerin, wird (nur scheinbar) aus dem Publikum aufgenommen und bereitet den Sound-Boden, auf dem sich fast alles abspielt.
Der nicht nur elektronisch erzeugte Sound der Inszenierung wandelt sich stetig, von sphärisch über Beat-Boxing, Blues und an Schubert, Beethoven und Brahms erinnernde Klänge und melodische Muster. Stille herrscht, als Werther zu sich selbst sagt, er spüre, dass Lotte ihn liebe.
Wie und wer ist Werther, fragt die Inszenierung? Ein großer Liebender, ein romantischer junger Mann voller Hingabe, ein Held, ein sich der Lächerlichkeit Preisgebender, der an seiner Einsamkeit zugrunde geht, sich nach Lotte in Sehnsucht verzehrt? Die drei Schauspieler sprechen und spielen verschiedene Antworten, unzählige Variationen dieser Figur. Wenn sie sich zuweilen recht deutlich von Werther distanzieren, wird es auch mal komisch, etwa wenn der „rücksichtslose Mittelstandsjunge“ zum „Vegetarier“ wird und sogar verdrießlich. Doch nie wird Werthers Geschichte als Ganzes der Lächerlichkeit preisgegeben.
Immer wieder zitieren die Schauspieler kurze prägnante Passagen aus Goethes Text, einem Briefroman und einem der größten Liebesromane der Weltliteratur, der schon als erster Pop-Roman der deutschen Literaturgeschichte bezeichnet wurde. Sie entfalten somit Bilder, die Goethes Text evoziert und aus heutiger Sicht ausdeutet. Der erste Tanz von Lotte und Werther, der Kontretanz, findet sich auf der Bühne wieder; verwirrende Küsse aller drei Figuren, Werther, Lotte, Albert untereinander, ein Spiel, in Goethes Text hineingedeutet.
Die zitierten Textpassagen bilden den roten Faden, der sich trotz der Vielstimmigkeit entwickelt, sodass die Geschichte der Annäherung von Werther und Lotte, die Freundschaft mit ihrem Verlobten Albert, der Schmerz und die Verwirrung des befreundeten Trios, die Tragödie und das Adieu und schließlich Werthers Tod erkennbar wird.
Wer ist Werther? Ein Achselzucken als Antwort – und der Rhythmus eines Herzens. Es könnte Lottes sein. Dem Theater Triebwerk ist eine zeitgemäße, starke und vielschichtige Inszenierung von Goethes Werther für heutige Jugendliche ab 14 Jahren gelungen.