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Gekonnt gewollt

„Der Kirschgarten“, Kampnagel
Der Kirschgarten

Sinnbild der Leibeigenschaft: die Kirschblüte

Das Schlusswort hat der uralte Diener Firs (Valentin Jeker): „Das Leben ist vergangen, als ob es gar nicht da gewesen wäre.“ Bis man sich als Zuschauer zu dieser weisen Erkenntnis hingelebt hat, sind über drei Stunden auf der Bühne prall gefüllt worden. Aber wie am Ende so manchen Lebens stellt sich die Frage: „Und das soll alles gewesen sein?“ Es wurde viel und ausdauernd geschrien, Porzellan zerbrochen, geweint, frontal so manche Ansprache gehalten, ausdauernd Unglück zelebriert und Pläne wurden als irrig entlarvt. Und das alles von mehr als einem Dutzend hochkarätiger Schauspieler, die zu bezahlen es einer Gemeinschaftsanstrengung von Sophiensälen, Kampnagel, Theater im Pumpenhaus Münster, Theater Liechtenstein u.a. bedurfte. Zum Glück können sie sehr gut genau das erfüllen, was das Regieduo Thorsten Lensing und Jan Hein von ihnen will. Nämlich Tschechow mit seiner eigenen Melodie übertönen.

Joachim Król etwa kann als erniedrigter Kontorist Epichodow ganz wunderbar den verzweifelten Clown geben. Er stolpert über jedes Stuhlbein, das sich ihm bietet, mit Bravour. Und passt mit seiner tief sitzenden Melancholie, wenn auch verlacht, haargenau zu den ihn umgebenden Versagern, die das prärevolutionäre Stück von 1904 über das Ende der Großgrundbesitzer und ihrer Trabanten in Russland prägen. Spätestens beim vierten Stolpern wissen wir: Er kann’s. Genauso wie Ursina Lardi als Gutsbesitzerin Ljuba ganz prima zerrüttet sein kann und ständig leiden. An sich. An den anderen. Am Abschied von der ererbten und vertrauten Welt, die ihr nun dank Zwangsversteigerung genommen wird. Alles perdu: der uralte Gutshof, der geliebte Kirschgarten, ihr ein und alles. Den allerdings lässt der neue Besitzer Lopachin schnell fällen, um Parzellen für kommende Sommergäste zu gewinnen. Seine Ahnen haben den Hof noch als Leibeigene bewirtschaftet. Er hat bauernschlau sein Vermögen als Kaufmann gemacht und kann den Ort persönlicher Erniedrigung einfach ersteigern. Und aufräumen: „Jede Blüte im Kirschgarten steht für einen Leibeigenen aus der Geschichte.“ Devid Striesow in der Rolle des Lopachin fesselt. Auch er immer wieder ein großer Zauderer, hat er doch hier seine Chance ergriffen, die Oberhand über die lebenden Gespenster zu erlangen. Wie er, immer wieder auf den Boden stampfend, als müsse er sich seiner selbst im Hier und Jetzt vergewissern, über seinem neuen Eigentum nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll, ist ein großartiger Moment. Ist DER großartige Moment des Abends.

Und sonst? Wie gesagt: Alle können gut, was gewollt wird. Lebendig ist das nicht. Das ist artifizielles Frontaltheater mit einer kruden Gesellschaft aus Illusionisten und Schwätzern. Es wird munter durch die moderne Körpersprache gewildert, man erkennt Versatzstücke moderner Hysterie aller Kanäle. Nur dadurch, dass auf der vergeblichen Suche nach Glück auf den von Tschechow angelegten Tönen herumgescratcht wird, bis man sie fast nicht mehr hören mag, ermüdet. Das ist wie mit einem Witz. Der Erzähler sollte nicht seine eigene Erzählung durch ständiges Lachen überfordern.

Im Programmheft nicht erwähnt wird, wer für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet. Das ist großartig. Eine Mauer aus überdimensionalen Ziegeln quert den Raum. Zu Beginn wird sie von allen Darstellern Stein für Stein errichtet. Zwischendurch umgeworfen. Ihre Bruchstücke zum Neubau genutzt. Mit großem Getöse wieder umgestürzt. Neu gebaut und umgruppiert. Sinnbild für vieles. Das Alte stürzt ein und Neues entsteht. Eine Gesellschaft im Umbruch. Welt entsteht neu auf Basis alten Materials. Physisch und psychisch. Ob damit auch neue Menschen entstehen, darf bezweifelt werden.

Text: Oliver Törner
Foto: Torre Aqua c/o Scheune

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