Drehbühne / Größen von Gestern

Unberechenbar, aufbrausend, jähzornig

Ulrich Wildgruber

Als am Berli­ner Ku’damm noch das berühmte Keller­lo­kal „Aschin­ger“ exis­tierte, wo es „der Welt beste Erbsen­suppe mit Einlage“ gab und dieses köst­li­che gold­far­bene Bier, saßen dort an einem ruhi­gen Herbst­abend – es mag zehn Jahre vor dem Mille­nium gewe­sen sein – drei Männer beiein­an­der, so um die 55, genos­sen das gastro­no­misch Gebo­tene und riefen sich – zunächst gut gelaunt – Ereig­nisse aus der Schul­zeit in Erin­ne­rung, die sie ehedem bis zum Abitur gemein­sam auf dem Biele­fel­der Helm­holtz-Gymna­sium verbracht hatten.

Der erste, Rolf Winkel­grund, vor der „Wende“ Ober­spiel­lei­ter am Thea­ter Cott­bus, nippte an einem klei­nen Bier­glas und rauchte nicht. (Er hatte, wie er sagte, seinen Herz­in­farkt nur knapp über­lebt.) Der zweite, Autor dieser Zeilen, ehemals Haus­re­gis­seur am Hambur­ger Ernst Deutsch Thea­ter, insze­nierte soeben in Berlin eine Tour­nee­pro­duk­tion und hatte an diesem Abend proben­frei. Er trank Wodka-Bitter-Lemon. Auch er rauchte nicht, hatte es sich vor zwei Jahren erst abge­wöhnt. Der dritte, ein berühm­ter deut­scher Schau­spie­ler, sprang plötz­lich, bereits leicht ange­trun­ken, auf die Beine und schrie die zwei ande­ren laut­stark an, wetterte ihnen Ankla­gen über den Tisch entge­gen, derge­stalt, dass der eine bereits im Zeit­al­ter des Schul­thea­ters mit ihm nie hätte insze­nie­ren wollen. Der andere habe seine schau­spie­le­ri­schen Leis­tun­gen bereits damals in der Schü­ler­zei­tung bekrit­telt. Die zwei derart Ange­spro­che­nen bekun­de­ten, ihnen sei nichts derglei­chen erin­ner­lich, aber der dritte im Bunde - ja, es handelte sich um Uli Wild­gru­ber - wollte von seinen Vorwür­fen nicht lassen.

So war er, unser Uli, schon in Schul­ta­gen unbe­re­chen­bar, aufbrau­send, jähzor­nig, dann wiederum wunder­voll lyrisch, weich­her­zig, gefühl­voll, zuwei­len gar senti­men­tal. Und diese, weit ausein­an­der­klaf­fende Emotio­nal­schere, die vielen Kriegs­kin­dern der 30er und 40er Jahr­gänge des vori­gen Jahr­hun­derts eigen ist, weil sie im Jahr 1945 nur zu glau­ben vermoch­ten, dass krie­ge­ri­sche Ereig­nisse kurze Zeit nach dem Zusam­men­bruch Deutsch­lands erneut auf sie einstür­men würden, ist gewiss einer der Gründe dafür, dass er sich an einem gräu­li­chen Novem­ber­tag des Jahres 1999 auf der Insel Sylt das Leben nahm.

Ein ande­rer bestand, wie er Freun­den häufig wort­reich erklärte, in der mit den Jahren zuneh­men­den Text­angst. Wild­gru­ber spielte ja, vornehm­lich bei Regie-Kory­phäen wie Zadek, Stein, Gosch, Minks jahr­zehn­te­lang ausschließ­lich Haupt­rol­len. Gewal­tige Text­mas­sen musste sein Hirn verar­bei­ten, eine Fähig­keit, die nach seiner Selbst­ana­lyse lang­sam, aber stetig nachließ.

Eine dritte Kompo­nente war seine private Part­ner­schaft mit der jungen Martina Gedeck.

„Ich kann es ihr doch nicht zumu­ten“, brach es an jenem Abend in Berlin aus ihm heraus, „mich eines Tages als Roll­stuhl­pa­ti­en­ten zu pfle­gen!“ Martina, die erst nach seinem Tod verdiente darstel­le­ri­sche Welt­pro­mi­nenz erzielte, hätte das aufgrund der ihr eige­nen tiefen Mensch­lich­keit gewiss anders gese­hen. Ob sie jemals darüber gespro­chen haben, bleibt ihr hoch geach­te­tes Geheim­nis. Er war ein unge­mein viel­sei­ti­ger Darstel­ler, der dennoch in allen seinen Figu­ren Wild­gru­ber blieb, ob er Shake­speare, Beckett, Sopho­kles, Brecht oder Wede­kind spielte, ob er allabend­lich total erschöpft und durs­tig auf der Bühne stand oder vor der Kamera. Er fuhr an jenem grauen Novem­ber­tag auf die Insel Sylt, angeb­lich, um sich einige Tage zu erho­len, legte sich an den Strand und ließ sich von der Flut überrollen.

Man fand ihn, wie er stets gelebt hatte, als Schau­spie­ler, bereits ertrun­ken, aber mit hoch­ge­reck­tem Arm, als wolle er signa­li­sie­ren: „Ihr müsst nicht lange nach mir suchen, um meinen Körper zu bestat­ten. Hier bin ich!“ Ein herr­li­cher, wert­vol­ler Barock­mensch … im Leben wie im Tode!

Hans-Peter Kurr

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