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Hänsel & Gretel

Thalia Theater
Hänsel & Gretel

Gar nicht märchenhaft: zwei im Wohlstand verwahrloste Kinder auf dem Weg ins noch größere Elend

Text: Dagmar Ellen Fischer / Foto: Matthias Mathies

„Liebe Kinder, groß und klein, ein Märchen soll begonnen sein…“, schnarrt eine dunkle Stimme aus dem Off. Sie gehört Till Lindemann, im Hauptberuf Rammstein-Sänger; für die jüngste Uraufführung im Thalia Theater gibt er den Erzähler, komponierte und textete wenig märchenhafte Lieder und geistert als Phantom durch jenen Wald, in dem sich „Hänsel & Gretel“ verlaufen – allerdings nur auf der Bühnenrückwand in vorproduzierten Filmsequenzen. Live agieren die Protagonisten: das verwirrte Geschwister-Paar, deren Eltern und natürlich die Hexe. Doch nach der umfassenden Bearbeitung durch Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo ist vom Grimmschen Grundstoff wenig übrig, das estnische Paar zeichnet für Regie, Bühnenbild, Kostüme sowie Video verantwortlich.

Zunächst wohnt die vierköpfige Familie in einem umgebauten Waggon, dort dominiert die Farbe mittelblau: als Tapete, in der Bluse sowie den dicken Tränensäcken der Mutter. Ihr Gatte trägt die Komplementärfarbe im Gesicht, ein ungesundes Orange liegt auf seinen Wangen. Den Grund für die Entstellung bringt die Ehefrau auf den Punkt: „Du hast ein Monster aus mir gemacht“. (Seelische) Hässlichkeit ist vererbbar: Gretel wird durch einen massiven Überbiss und von einer großflächigen Schuppenflechte entstellt, Hänsel ist von Pockennarben gezeichnet.

Dem wenig glücklichen Familienleben soll ein Ende gesetzt werden: Um sich nicht weiter einschränken zu müssen – sie will keinesfalls aufs zweite Auto verzichten, er nicht auf den Ski-Urlaub –, muss eine radikale Lösung her: Fort mit den Kindern! Folglich führt der Vater die Beiden am nächsten Morgen in den naheliegenden Wald. Vom Phantom erschrocken, suchen Hänsel und Gretel erst das Weite, dann in einem Waggon Zuflucht. Doch dieses baugleiche, ihrem Zuhause zum Verwechseln ähnliche Modell wird von der Hexe bewohnt …

Die ist in dieser Bühnenfassung androgyn und fett. Björn Meyer lockt als schrille Drag-Queen die hungrigen Kinder mit angefressenen Burgern, Sahnetorte samt Spucke und anderen fantasievollen Unappetitlichkeiten. Zum Kotzen langweilig entwickelt sich die Buffet-Schlacht, und Till Lindemann beim Milch-Spucken zuzusehen, fügt dem Abend auch keine neue Dimension hinzu.

Den aus allen Fugen geratenen Hänsel – nach der Pause im Fett-Anzug – findet die männliche Hexe endlich zum Anbeißen. Gretel aber riecht den Braten, lässt ihren ungeliebten Job als Putze links liegen und schiebt die böse Hausherrin in den begehbaren E-Herd. Dann folgt die eigentliche Verirrung im Theater-Wald: Gretel verwandelt sich in einen großen Stein, und Hänsels Herz wird bei vollem Bewusstsein entfernt, um dem Phantom als gegrillte Zwischenmahlzeit zu dienen. Über märchenhaft verschlungene und entsprechend unschlüssige Wege landen die Geschwister schließlich wieder im ungemütlichen Schoß der Familie.

Über weite Strecken der 160 Minuten dauernden Aufführung hat der Zuschauer die Wahl zwischen dem Live-Geschehen auf der Bühne und einem projizierten Ausschnitt auf einer riesigen Leinwand in der oberen Hälfte des Bühnenraums. Gegen die Musik indes kann sich niemand wehren, die Balladen kommen mit durchweg fünf Tönen aus. Gut funktionieren die miteinander verschränkten aktuellen und die vorweg produzierten Videosequenzen sowie die allseits gründlich gruseligen Gesichter. Gabriela Maria Schmeide und Tim Porath bleiben als Eltern trotz der geschminkten Farbigkeit blass, als Titelfiguren brillieren Marie Jung und Kristof Van Boven bei weitgehender Sprachlosigkeit mit differenzierter Körpersprache. Fazit: „Hänsel & Gretel“ sorgen für jede Menge Langeweile, musikalischen Kitsch, Bewunderung für die Arbeit der Maskenbildnerin (Julia Wilms) und viel Applaus von zwei Fangemeinden im Publikum.

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