Highlight / Kritik / Schauspiel

Havarie in ruhigen Gewässern

Diplomarbeiten der Theaterakademie Hamburg, Kampnagel
Havarie 2012

Der Regiejahrgang 2012 der Theaterakademie Hamburg

Fünf Diplomanten des Regiejahrgangs 2012 haben auf Kampnagel ihre Abschlussarbeiten unter dem Titel „Havarie 2012“ vorgestellt. Eine Havarie der kontrastierenden Theaterentwürfe war angekündigt worden. Doch die meisten Regisseur/Innen navigierten ihr Ensembleschiff ruhig und vernunftgesteuert durch Gewässer der künstlerischen Möglichkeiten.

Schöne Aussicht hier.“ Inmitten von Stuhlbergen hockt der Mann und will sich selbst davon überzeugen, wie gut es ihm doch geht. Ein schönes Haus mit einer wunderbaren Aussicht direkt am Wasser hat er gekauft. Zusammen mit seiner Frau bewohnt er nun ihr Traumhaus in der ruhigen Natur. Doch die Zufriedenheit will sich nicht einstellen. Dann kommt seine Frau eines Tages von ihrer Rudertour nicht mehr zurück.
Der Mann jagt zwischen den Stühlen hin und her. Stuhl um Stuhl stellt er in Publikumsreihen auf. Wir müssen auf sie warten, meint er. Und tatsächlich: Immer mehr Menschen stehen aus den Zuschauerreihen auf und setzen sich mit ihm zusammen auf die Stühle.
Babett Grube hat zwischen den kahlen Eis- und Salzhügeln in der Kampnagelhalle eine sensible Interpretation des Scheiterns nach dem Theaterstück von Jon Fosse hingelegt. Besonders Christian Bayer in der Rolle des Mannes, der verzweifelt versucht, seinem Glück hinterherzuhechten, beeindruckt. Nichts hat er falsch gemacht und dennoch weiß er, dass die Katastrophe kommen wird.

So ruhig und konzentriert die erste Diplominszenierung war, so experimentell und überbordend war die zweite: „Die Fliehenden Hafen oder das schwarze Ei“ von Matthias Mühlschlegel. Auch hier ging es um Lebensentwürfe und um ihr Scheitern, aber die Stilmittel der beiden Diplomanten hätten nicht unterschiedlicher sein können. Zu viert versammeln sich die vier Performer um das schwarze Ei auf der Bühne. Mit Tänzen und Gesängen wollen sie es zu den erwünschten Heilkräften animieren. Denn als kreativer, junger Mensch ist man heutzutage so hilflos dem Hamsterrad der ständigen Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung ausgesetzt, dass man leicht an die eigenen Grenzen stößt. Mühlschlegel erfindet Szenen, die die Flucht vor dem Erfolgsdruck, den Drang zur immerwährenden Flexibilität und das Rebellieren gegen das verordnete Mittelstandsglück fantasievoll bebildern. Ihm ist viel eingefallen, um einem Lebensgefühl des ständigen Gehetztseins auf die Spur zu kommen. Manches mutete wie bloßer Klamauk an, anderes verdutzte und etliches interessierte.

Zunächst hängt der Lebensraum voller Luftballons. Schön leuchten sie im Licht der Scheinwerfer und lassen Träume von grenzenlosen Möglichkeiten zu. Parzivals Mutter in Petticoat-Prinzessinnen-Gewand will ihren Sohn am liebsten in dieser Traumwelt festhalten. Doch ihr kleiner Mann in den kurzen Hosen lässt sich nicht einsperren. Er streift sich sein ballongeschwelltes Ritterkostüm über und zieht hinaus in die weite Welt. Er will sie erobern. Er will ein Ritter werden. Doch sein Weg ist einer der Verwüstung. Mit lautem Knallen lässt er die Ballons zerplatzen. Immer neue Leichen pflastern seinen Weg des vermeintlichen Erfolgs.
Diplomantin Lea Connert interpretiert Parzivals Entwicklung parallel zu Lebenssituationen von heutigen Kreativen. Sie sieht Parzival als einen modernen Selbstverwirklichungs-Aufsteiger-Typen. Wie die meisten jungen Leute ist er zur selbstvermarktenden Individualität mit hohem kreativen Output verpflichtet. Skeptisch beurteilt sie seine Chancen und die ihrer Generation.
Connerts Sichtweise nimmt Parzivals Geschichte seine über sich selbst hinausweisende Dimension. In einer modernen Welt scheint ihr jede Meta-Ebene unzeitgemäß und hinderlich. So wird Parzival heruntergebrochen auf eine schnöde Realität. Das ist klar einseitig fokussierend und so stark reduzierend, dass es der vielschichtigen Vorlage nicht gerecht wird.

Als mögliche Vorbilder stehen so viele zur Auswahl. Immer wieder neue Posen probieren die Frauen nach Vorlage der Model-Bilder aus. Doch welche passt zur eigenen Persönlichkeit? Welche Auslebung der eigenen Weiblichkeit ist wünschenswert?
In Gertrude Steins „I am here Doctor Faustus“ erkundet eine Frau in einer Begegnung mit der Natur sich selbst und ihre Möglichkeiten. Regisseurin Julia Dittrich lässt die Vorlage im englischen Original spielen. Der mäandernde Textfluss wird so durch keine Übersetzung geschmälert.
Dittrich macht aus dem poetischen Prosatext eine konsequent durchkomponierte Sprechoper, die mit Sprache tiefsinnig und intelligent spielt. Die drei Schauspielerinnen bilden dabei meist eine Einheit, erkunden aber auch ihre eigenen Persönlichkeiten, indem sie zeitweise in ihre jeweilige Muttersprache Holländisch, Polnisch und Deutsch zurückfallen. In ihren transparenten Kleidern sind sie zarte Frauen, mit dem Männerjackett werden sie zu Faustus und in Unterhemd und Schlips zum erobernden Mann. Ihre Choreographien auf den drei Podesten der Bühne variieren verschiedene Vorstellungen von weiblichen und männlichen Verhalten.

Auf der schwarzen Bühne ragen Holzbalken bis zur Decke, zu Säulen aufgestellt. Rauchschwaden umziehen sie. Die Pfeiler einer Gesellschaft, ab welchem Moment geraten sie ins Wanken? Wann beschließen die Untergebenen aufzubegehren gegen die Zustände?
Zunächst glaubt Kohlhaas (Dennis Pörtner) noch an die Gerechtigkeit. Noch vertraut er den Gesetzen, der Ordnung, dem Staat. Erst als er seinen Prozess verliert und seine geliebte Frau Lisbeth von Vertretern dieses Staates getötet wird, wird er zum Aufbegehrenden. Er mutiert zum Racheengel. Hoch schwebt er über der Bühne, nackt in seinem Zuggeschirr. Er schart hinter sich Tausende von Unzufriedenen, die unter seiner Führung auf ihre Missstände hinweisen wollen und dafür Städte niederbrennen. Ist dieser alles Maß verlierende Kohlhaas ein Gerechter? Ist er ein Kämpfer, der stellvertretend für viele zur Waffe greift, weil alle anderen Mittel versagt haben?
Regisseur Felix Meyer-Christian hat klugerweise eine eindimensionale Beantwortung dieser Frage in seiner Diplom-Inszenierung vermieden. Er zeigt Herrscher und Revolutionäre, die sich gleichermaßen stark von ihren ganz persönlichen Lebenszielen und strategischen Machtwünschen treiben lassen. In Zeiten arabischen Revolutionen, Occupy-Bewegung und Demonstrationen in EU-Staaten ist der freien Gruppe Costa Compagnie ein aktueller Beitrag von inhaltlicher und künstlerischer Brisanz gelungen, der bewies, wie spannend und anregend Theater sein kann. Das bisherige Highlight der Diplome 2012!

Vom 15.6. bis 17.6. wird die letzte der Diplominszenierungen, „Grete Pagan: Und woher weiß ich, wer ich bin?“, auf Kampnagel zu sehen sein.

Text: Birgit Schmalmack
Foto: Kerstin Schomburg

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