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Man soll wissen

„Verbrennungen“, Deutsches Schauspielhaus
Verbrennungen

Der Milizionär Nihad (Florens Schmidt, sitzend) erkennt, wer er ist.

Mit „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad hatte am Samstag Abend eine wahrhaftige Tragödie im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses Premiere. Wenngleich das Ende der zweistündigen Inszenierung von Regisseur Konradin Kunze das Publikum nicht ohne Hoffnung entließ. Bis dahin führen die sieben Schauspieler des Jungen Schauspielhauses in einer starken Ensemble-Leistung durch eine Familientragödie antiken Ausmaßes. Die unterschiedlichen Spielorte der Bühne (Lea Dietrich) sind allesamt Provisorien aus Brettern, Paletten, Leitern und dicken Folien, wie die Flüchtlingslager im Bürgerkrieg.

Selbst ins sicher geglaubte Exil, die westliche Metropole, brechen die vergangenen Grausamkeiten ein. Sie wirken bis in die Gegenwart der Familie. Als Hermile Lebel (Oliver Hermann) den Zwillingen Jeanne (Angelina Häntsch) und Simon (Jonathan Müller) das Testament ihrer Mutter Nawal Marwan (Juliane Koren) eröffnet, geraten die erwachsenen Kinder in der Folge immer mehr aus der Fassung. Fünf Jahre lang hatte Narwal geschwiegen, bevor sie starb. Nun sollen die Zwillinge den totgeglaubten Vater und einen unbekannten Bruder im bürgerkriegsgeschüttelten Herkunftsland der Mutter finden und ihnen jeweils einen Briefumschlag übergeben – so lautet der letzte Wille.

Während Simon sich, von Wutausbrüchen begleitet, weigert, die Geschichte aufzuklären, begibt sich Jeanne mit ihrem rationalen Verstand auf die Suche nach den unbekannten Männern. Häntschs anfänglich kühler Mathematikerin merkt man an, dass ihr Glaube an Gewissheiten erschütterbar ist. Das laute „Nein“ von Müllers Simon bröckelt in fahrigen Handbewegungen, im Boxring kann er sich nicht konzentrieren. Beide verfallen wechselweise in völliges Schweigen, das der jeweils andere Zwilling durchbrechen kann.

In Rückblenden und mit Lichtwechseln (Jan Vater), die wie filmische Überblendungen Szenen-, Zeit- und Ortswechsel markieren, wird die Geschichte von Nawal gespielt. Es ist die Geschichte von der Frau, die schreibt und der Frau, die singt. Die junge Nawal ist von ihrem ebenso jungen und heimlichen Geliebten Wahab (Florens Schmidt) schwanger. Er muss in den Krieg ziehen. Sie muss das Neugeborene hergeben, von ihrer Mutter dazu gezwungen. Die Frauen der Familie sind im Zorn gefangen. „Du musst den Faden zerreißen“, sagt die Großmutter auf dem Totenbett zu Nawal. Sie weist der Enkelin den Weg: „Geh! Lerne Lesen, Schreiben und Rechnen und wenn du zurückkehrst, schreibe meinen Namen auf den Grabstein.“

Und Nawal geht, später lange Jahre begleitet von ihrer Freundin Sawda (Christine Ochsenhofer), der sie nun Lesen und Schreiben beibringt und damit das Denken. Immer wieder versucht Nawal, der Verzweiflung und dem Hass durch Denken zu entkommen, denn sie glaubt, dass das Morden, Foltern und Vergewaltigen niemals beendet werden kann, wenn die Kette der Rache nicht unterbrochen wird. Von Flüchtlingslager und Front zu Front zieht das Freundinnen-Paar, bis die eine in Gefangenschaft gerät und die andere getötet wird.

Ein winziges Foto von den beiden bringt Tochter Jeanne auf ihre Spur und damit schließlich zur unerträglichen Wahrheit über Vater und Bruder. Auch die für ihre Kinder fast unmenschliche Aufgabe, diese zu finden, hat Nawal durchdacht und geplant. Am Ende kennen Jeanne und Simon die Wahrheit, die Identität von Bruder und Vater ist klar.

Regisseur Konradin Kunze inszeniert das meistgespielte Stück des preisgekrönten, franco-kanadischen und im Libanon geborenen Autors Wajdi Mouawad mit vielen leisen, starken Momenten. Neben großen Wutausbrüchen, etwa von Jonathan Müller als Simon und einer brachialen, stark verfremdeten, erschütternden Kriegsszene mit Florens Schmidt als irrem Soldaten, sind es diese Momente, die so ergreifen, dass man den Atem anhält. Oliver Hermann gibt seinem Notar Lebel eine sowohl elegante wie leicht komische Note. Behutsam und beharrlich schafft er es, die Zwillinge voranzutreiben. Auch Martin Pawlowskys Legendenerzähler Abdessamad ist in einigen Momenten komisch – Momente, die das Publikum aufatmen lassen.

Chorische Elemente schaffen wahlweise Atmosphäre und Distanz zum Geschehen, wenn das Ensemble im Hintergrund hechelt wie jagende Hunde, wenn es einen anschwellenden Gesang anstimmt oder in einer Choreografie die Bühne kreuzt, wie Milizen und Bürgerkriegsflüchtlinge das Land. Ein schwebender Ton (Musik: Octavia Crummenerl), von einem Finger am Glasrand entlang fahrend erzeugt, bringt die ganze Vagheit, die die Zwillinge quält, zum Ausdruck. An anderer Stelle bricht eine Art Hard Rock aus dem Off wie ein Krieg in den Raum ein.

Juliane Koren spielt den Wechsel von der jungen, fröhlichen Geliebten, über die zwar verzweifelte, aber starke Kämpferin und Denkerin zur erst verstummten, sich vor Gericht noch einmal gegen ihre Peiniger erhebenden Stimme überzeugend. Christine Ochsenhofers Sawad berührt gleichermaßen, ob sie von einem Terroranschlag, dem sie nur knapp entging, berichtet oder, ums Überleben kämpfend, leise singt: „Quand je chante, je chante.“

Text: Angela Dietz
Foto: Sinje Hasheider

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