Text: Birgit Schmalmack | Foto: Thomas Aurin
Die Lessingtage gaben sich dieses Jahr nicht mit der Beleuchtung eines Konfliktherdes zufrieden, sondern richteten ihre Bühnenscheinwerfer gleich auf viele Missstände dieser Welt. Das Festival im Thalia Theater zeigte also, dass Theater keinesfalls überall in der post-politischen Phase angekommen ist. Mitunter ist es sogar tagespolitisch aktuell wie die „Maidan-Tagebücher“, die zum Ende des Festivals gezeigt wurden. Mit aufgezeichneten Interviewpassagen aus den Reihen der Demonstranten beleuchtet Andriy May die Entwicklung auf dem Maidan. Was als friedliche Demonstration gegen Janukowitsch begann, schaukelt sich durch die Aggression der Polizeitruppen immer mehr zu einem Bürgerkrieg hoch. Viele Tote, noch mehr Verletzte und jeden Sonntag bis zu 1,5 Millionen Menschen zur Vollversammlung auf dem Maidan. Alle waren sich einig in ihrem Protest gegen die bestehende Regierung, doch ihre konkreten Ziele blieben im Vagen. Die Hymne der Ukraine wurde zu jeder vollen Stunde gesungen. Die Europahymne summen sie nun zusammen mit den Zuschauern in Deutschland. Am Schluss bekennt einer von ihnen: „Ich bin für den Kommunismus. Die Liebe, die Selbstaufopferung und das Mitgefühl, wie wir es auf dem Maidan praktiziert haben, wünsche ich mir für unsere Zukunft.“ In der heutigen EU würde dies wohl eher eine Utopie bleiben.
Auch der Beginn des Festivals beschäftigte sich mit einem Themenkomplex aus den Tagesnachrichten. Die Eröffnungsveranstaltung „Das schweigende Mädchen“ lenkte den Blick auf Deutschland und die Wut, das Entsetzen und das Unverständnis angesichts des noch laufenden NSU-Prozesses. Regisseur Johan Simons erkannte klar die Unspielbarkeit des Textes von Elfriede Jelinek und verweigerte sich einer theatralen Umsetzung, so wie sich der NSU-Prozess selbst jedem Verstehen verweigert. Simons machte ihn zu einer inszenierten Lesung, bei der zwei falsche Propheten, drei Engel Gottes, Jesus und ein Richter auftraten, deren wirre Erlösungsfantasien das Gefühl der Ratlosigkeit nur verstärkten.
„Die Lücke“ von Nuran Calis knüpfte hier an und blickt auf die Ungeheuerlichkeiten der NSU-Ermittlungen anhand des Nagelbombenattentates in der Kölner Kolpstraße. Der Zufall wollte es, dass genau in dieser Woche sich auch der NSU-Prozess dem Attentat in Köln widmete. Als klug inszeniertes Doku-Theater lässt Calis die Lücke im System erkennen. Nicht nur im deutschen Rechtssystem, auch zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den türkischen Migranten der ersten oder zweiten Generation und in jedem von uns, wenn er sich traut, ehrlich dem Umgang mit dem Fremden in sich selbst nachzuspüren.
Ein weiteres Highlight war die Aufführung der Athener Blitz Theatre Group. Nur noch ein Haufen Schutt begrenzt die Tanzfläche, die aus einem abgetretenen Teppich besteht. Doch drei Paare tanzen Walzer, auch wenn die Welt um sie herum zusammenbricht. Denn solange die Musik spielt und sie tanzen, können sie sich noch in Sicherheit wiegen. Doch immer wieder kann einer von ihnen die störenden Gedanken nicht aus dem Kopf verdrängen und stürzt ans Mikrofon, erzählt von Bomben auf Kreuzberg, von Atom-Katastrophen in Amsterdam und von brennenden Wolkenkratzern in London. „Late night“ ist ein bedrückendes Endzeitszenario, das die derzeitige Stimmungslage in Griechenland wohl eindrücklicher nicht widergeben kann.
Ein weiterer Höhepunkt war „Common Gound“ vom Maxim Gorki Theater. Ein Projekt über Ex-Jugoslawien wollen die sieben jungen Leute auf der Bühne angehen. Die Heimatstadt der beiden jungen Frauen ist das Ziel. Hier gab es ein KZ, hier wurden Massengräber entdeckt, hier werden die Leichenteile in einem großen Aufarbeitungsprojekt zu identifizieren versucht. Vier Jugoslawen, eine Israelin und ein Deutscher brechen auf nach Bosnien. Sie haben fünf Tage, um fünf Jahre Krieg zu verstehen. Das könnte schwierig werden. Doch die Regisseurin Yael Ronen ist solche Schwierigkeiten gewohnt. Die jungen Ex-Jugoslawen sind Serben, bosnische Serben, jüdische Bosnier, muslimische Bosnier. Sie hätten während des Krieges auf verschiedenen Seiten gestanden, wenn sie als genug dafür gewesen wären. Jetzt leben sie alle in Deutschland, haben deutsche Pässe und arbeiten auf der Bühne zusammen. Geht sie die Vergangenheit noch etwas an? Mit dem Erzählen von persönlichen Geschichten kann Theater zur Aufarbeitung von Geschichte beitragen. Wenn es auch noch so temporeich, ehrlich und emotionsgeladen geschieht wie hier, umso besser.
„Dementia“ von Kornél Mundruczó arrangierte dagegen einen Stilmittelmix aus Satire, Porno-Komödie, Splatter und Operette, der sich alle Türen bewusst offen hielt. Der mit gesellschaftskritischen Anmerkungen nicht sparte, sich aber gleichzeitig naiv und unpolitisch gab. Ein Abbild einer Gesellschaft, die sich der Demenz in Form einer Abfolge unterschiedlichster Ablenkungen hingibt. Kaum droht ein Aha-Erlebnis, deckt der nächste Flirt, der nächste Tanz, der nächste Song alles sogleich wieder zu, was unangenehm werden könnte.
Das Pekinger Gastspiel machte klar, dass der chinesische Regisseur Meng Jinghui keine Angst vor Kitsch hat. Er kam dieses Jahr mit „Bernstein“ ins Thalia Theater: mit einem romantischen Musical um die große Liebe, die selbst die Transplantation des geliebten Herzens nicht stoppen kann.
Der franko-algerische Choreograph Abou Lagraa war auch 2015 wieder vertreten. Für „Roots“ bezog er seine künstlerische Energie aus dem inszenierten Zusammentreffen seines algerischen Männerensembles mit französischen Tänzerinnen. Er wollte die unsichtbare Wand zwischen Männern und Frauen in seiner muslimischen Heimat-Kultur sichtbar machen. Wenn Berührungen in der Öffentlichkeit verboten sind, wird der gemeinsame Tanz auf der Bühne zu einer Herausforderung, bei der jede Seite um ihre Würde kämpfen muss. Die Frauen demonstrieren mit Stärke und Weiblichkeit, die Männer positionieren sich dagegen mit Kraft- und Machtvorführungen. Ihre Begegnungen lassen zunächst wenig Zärtlichkeit zu. Sie brauchen Schmiermittel, die Abou Lagraa mit Hilfe von Erde und Wasser auf der Bühne schafft. Erst erdverschmiert haben die Tänzer eine zweite Haut und können sich in aller Sinnlichkeit auf Berührungen einlassen. Doch ihre abwehrenden Zuckungen zeugen vom Kampf, der währenddessen in ihnen zu toben scheint.
Den Abschluss im großen Haus bestritt Hausregisseur Luk Perceval mit seiner St. Petersburger „Macbeth“-Inszenierung, die einen von Selbstzweifeln und widerstreitenden Gefühlen gequälten Feldherrn zeigt. In einer artifiziell-atmosphärischen Bildwelt aus einem bühnenfüllenden Gewirr aus Metallstangen stürzt ihn das Machtstreben in eine Gewaltspirale, die nur in den Abgrund führen kann. Hier wurde die Tagesaktualität dezent ins Künstlerisch-Intellektuelle gehoben und blieb dadurch wie im Theater gewohnt allgemeingültig und unangreifbar. Ein versöhnlicher Abschluss, dessen Kern-Aussage zu hitzigen Diskussionen wenig Anlass bot und der gut zur Datscha-Party auf der großen Bühne überleitete, wo man bei Ska und Polka die Konflikte in der Ukraine für einen Moment vergessen konnte.