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Rückblick Lessingtage 2015

Thalia Theater
Lessingtage 2015

Auf der Suche nach dem „Common Ground“

Text: Birgit Schmalmack | Foto: Thomas Aurin

Die Lessing­tage gaben sich dieses Jahr nicht mit der Beleuch­tung eines Konflikt­her­des zufrie­den, sondern rich­te­ten ihre Bühnen­schein­wer­fer gleich auf viele Miss­stände dieser Welt. Das Festi­val im Thalia Thea­ter zeigte also, dass Thea­ter keines­falls über­all in der post-poli­ti­schen Phase ange­kom­men ist. Mitun­ter ist es sogar tages­po­li­tisch aktu­ell wie die „Maidan-Tage­bü­cher“, die zum Ende des Festi­vals gezeigt wurden. Mit aufge­zeich­ne­ten Inter­view­pas­sa­gen aus den Reihen der Demons­tran­ten beleuch­tet Andriy May die Entwick­lung auf dem Maidan. Was als fried­li­che Demons­tra­tion gegen Janu­ko­witsch begann, schau­kelt sich durch die Aggres­sion der Poli­zei­trup­pen immer mehr zu einem Bürger­krieg hoch. Viele Tote, noch mehr Verletzte und jeden Sonn­tag bis zu 1,5 Millio­nen Menschen zur Voll­ver­samm­lung auf dem Maidan. Alle waren sich einig in ihrem Protest gegen die bestehende Regie­rung, doch ihre konkre­ten Ziele blie­ben im Vagen. Die Hymne der Ukraine wurde zu jeder vollen Stunde gesun­gen. Die Euro­pa­hymne summen sie nun zusam­men mit den Zuschau­ern in Deutsch­land. Am Schluss bekennt einer von ihnen: „Ich bin für den Kommu­nis­mus. Die Liebe, die Selbst­auf­op­fe­rung und das Mitge­fühl, wie wir es auf dem Maidan prak­ti­ziert haben, wünsche ich mir für unsere Zukunft.“ In der heuti­gen EU würde dies wohl eher eine Utopie bleiben.

Auch der Beginn des Festi­vals beschäf­tigte sich mit einem Themen­kom­plex aus den Tages­nach­rich­ten. Die Eröff­nungs­ver­an­stal­tung „Das schwei­gende Mädchen“ lenkte den Blick auf Deutsch­land und die Wut, das Entset­zen und das Unver­ständ­nis ange­sichts des noch laufen­den NSU-Prozes­ses. Regis­seur Johan Simons erkannte klar die Unspiel­bar­keit des Textes von Elfriede Jeli­nek und verwei­gerte sich einer thea­tra­len Umset­zung, so wie sich der NSU-Prozess selbst jedem Verste­hen verwei­gert. Simons machte ihn zu einer insze­nier­ten Lesung, bei der zwei falsche Prophe­ten, drei Engel Gottes, Jesus und ein Rich­ter auftra­ten, deren wirre Erlö­sungs­fan­ta­sien das Gefühl der Ratlo­sig­keit nur verstärkten.

„Die Lücke“ von Nuran Calis knüpfte hier an und blickt auf die Unge­heu­er­lich­kei­ten der NSU-Ermitt­lun­gen anhand des Nagel­bom­ben­at­ten­ta­tes in der Kölner Kolp­straße. Der Zufall wollte es, dass genau in dieser Woche sich auch der NSU-Prozess dem Atten­tat in Köln widmete. Als klug insze­nier­tes Doku-Thea­ter lässt Calis die Lücke im System erken­nen. Nicht nur im deut­schen Rechts­sys­tem, auch zwischen der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft und den türki­schen Migran­ten der ersten oder zwei­ten Genera­tion und in jedem von uns, wenn er sich traut, ehrlich dem Umgang mit dem Frem­den in sich selbst nachzuspüren.

Ein weite­res High­light war die Auffüh­rung der Athe­ner Blitz Theatre Group. Nur noch ein Haufen Schutt begrenzt die Tanz­flä­che, die aus einem abge­tre­te­nen Teppich besteht. Doch drei Paare tanzen Walzer, auch wenn die Welt um sie herum zusam­men­bricht. Denn solange die Musik spielt und sie tanzen, können sie sich noch in Sicher­heit wiegen. Doch immer wieder kann einer von ihnen die stören­den Gedan­ken nicht aus dem Kopf verdrän­gen und stürzt ans Mikro­fon, erzählt von Bomben auf Kreuz­berg, von Atom-Kata­stro­phen in Amster­dam und von bren­nen­den Wolken­krat­zern in London. „Late night“ ist ein bedrü­cken­des Endzeit­sze­na­rio, das die derzei­tige Stim­mungs­lage in Grie­chen­land wohl eindrück­li­cher nicht wider­ge­ben kann.

Ein weite­rer Höhe­punkt war „Common Gound“ vom Maxim Gorki Thea­ter. Ein Projekt über Ex-Jugo­sla­wien wollen die sieben jungen Leute auf der Bühne ange­hen. Die Heimat­stadt der beiden jungen Frauen ist das Ziel. Hier gab es ein KZ, hier wurden Massen­grä­ber entdeckt, hier werden die Leichen­teile in einem großen Aufar­bei­tungs­pro­jekt zu iden­ti­fi­zie­ren versucht. Vier Jugo­sla­wen, eine Israe­lin und ein Deut­scher brechen auf nach Bosnien. Sie haben fünf Tage, um fünf Jahre Krieg zu verste­hen. Das könnte schwie­rig werden. Doch die Regis­seu­rin Yael Ronen ist solche Schwie­rig­kei­ten gewohnt. Die jungen Ex-Jugo­sla­wen sind Serben, bosni­sche Serben, jüdi­sche Bosnier, musli­mi­sche Bosnier. Sie hätten während des Krie­ges auf verschie­de­nen Seiten gestan­den, wenn sie als genug dafür gewe­sen wären. Jetzt leben sie alle in Deutsch­land, haben deut­sche Pässe und arbei­ten auf der Bühne zusam­men. Geht sie die Vergan­gen­heit noch etwas an? Mit dem Erzäh­len von persön­li­chen Geschich­ten kann Thea­ter zur Aufar­bei­tung von Geschichte beitra­gen. Wenn es auch noch so tempo­reich, ehrlich und emoti­ons­ge­la­den geschieht wie hier, umso besser.

„Demen­tia“ von Kornél Mundruczó arran­gierte dage­gen einen Stil­mit­tel­mix aus Satire, Porno-Komö­die, Splat­ter und Operette, der sich alle Türen bewusst offen hielt. Der mit gesell­schafts­kri­ti­schen Anmer­kun­gen nicht sparte, sich aber gleich­zei­tig naiv und unpo­li­tisch gab. Ein Abbild einer Gesell­schaft, die sich der Demenz in Form einer Abfolge unter­schied­lichs­ter Ablen­kun­gen hingibt. Kaum droht ein Aha-Erleb­nis, deckt der nächste Flirt, der nächste Tanz, der nächste Song alles sogleich wieder zu, was unan­ge­nehm werden könnte.

Das Pekin­ger Gast­spiel machte klar, dass der chine­si­sche Regis­seur Meng Jing­hui keine Angst vor Kitsch hat. Er kam dieses Jahr mit „Bern­stein“ ins Thalia Thea­ter: mit einem roman­ti­schen Musi­cal um die große Liebe, die selbst die Trans­plan­ta­tion des gelieb­ten Herzens nicht stop­pen kann.

Der franko-alge­ri­sche Choreo­graph Abou Lagraa war auch 2015 wieder vertre­ten. Für „Roots“ bezog er seine künst­le­ri­sche Ener­gie aus dem insze­nier­ten Zusam­men­tref­fen seines alge­ri­schen Männer­en­sem­bles mit fran­zö­si­schen Tänze­rin­nen. Er wollte die unsicht­bare Wand zwischen Männern und Frauen in seiner musli­mi­schen Heimat-Kultur sicht­bar machen. Wenn Berüh­run­gen in der Öffent­lich­keit verbo­ten sind, wird der gemein­same Tanz auf der Bühne zu einer Heraus­for­de­rung, bei der jede Seite um ihre Würde kämp­fen muss. Die Frauen demons­trie­ren mit Stärke und Weib­lich­keit, die Männer posi­tio­nie­ren sich dage­gen mit Kraft- und Macht­vor­füh­run­gen. Ihre Begeg­nun­gen lassen zunächst wenig Zärt­lich­keit zu. Sie brau­chen Schmier­mit­tel, die Abou Lagraa mit Hilfe von Erde und Wasser auf der Bühne schafft. Erst erdver­schmiert haben die Tänzer eine zweite Haut und können sich in aller Sinn­lich­keit auf Berüh­run­gen einlas­sen. Doch ihre abweh­ren­den Zuckun­gen zeugen vom Kampf, der während­des­sen in ihnen zu toben scheint.

Den Abschluss im großen Haus bestritt Haus­re­gis­seur Luk Perce­val mit seiner St. Peters­bur­ger „Macbeth“-Inszenierung, die einen von Selbst­zwei­feln und wider­strei­ten­den Gefüh­len gequäl­ten Feld­herrn zeigt. In einer arti­fi­zi­ell-atmo­sphä­ri­schen Bild­welt aus einem bühnen­fül­len­den Gewirr aus Metall­stan­gen stürzt ihn das Macht­stre­ben in eine Gewalt­spi­rale, die nur in den Abgrund führen kann. Hier wurde die Tages­ak­tua­li­tät dezent ins Künst­le­risch-Intel­lek­tu­elle geho­ben und blieb dadurch wie im Thea­ter gewohnt allge­mein­gül­tig und unan­greif­bar. Ein versöhn­li­cher Abschluss, dessen Kern-Aussage zu hitzi­gen Diskus­sio­nen wenig Anlass bot und der gut zur Datscha-Party auf der großen Bühne über­lei­tete, wo man bei Ska und Polka die Konflikte in der Ukraine für einen Moment verges­sen konnte.

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