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Trau, schau, wem!

„Lear“, Hamburgische Staatsoper
Lear

König Lear (Bo Skovhus) weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht

Alt und regierungsmüde, so kennt man König Lear aus Shakespeares gleichnamigem Drama. Der 49-jährige Bariton Bo Skovhus gibt dem Protagonisten in Aribert Reimans „Lear“ an der Hamburgischen Staatsoper eine deutlich andere Färbung: Mitten im Leben stehend, teilt der virile Potentat sein Reich unter den Töchtern auf, ausgerechnet unter Goneril (Katja Pieweck) und Regan (Hellen Kwon), die ihm Böses wollen, während die ihm wohlgesonnene Cordelia (Ha Young Lee) leer ausgeht.

Das Unglück nimmt in dieser stimmigen, düster gefärbten Inszenierung von Karoline Gruber seinen Lauf, begleitet von einer Musik, die aus den seelischen (und körperlichen) Schmerzen der Verlierer dieser Familientragödie keinen Hehl macht. Im ersten Teil fahren die Bläser mitunter so wild durcheinander, formieren sich mit den Streichern wie zu Schwärmen aggressiver Insekten, dass das Leiden des Helden wahrhaft physische Dimensionen annimmt. Doch der peitschende Donner aus dem Orchestergraben – Dirigentin Simone Young und ihre Philharmoniker leisten drei Stunden lang Beachtliches! – weicht zunehmend einer fast verklärenden Innerlichkeit. Eine Veränderung, die sich im fortschreitenden Verfall der Hauptfigur widerspiegelt.

Tatsächlich gelingt es Skovhus, diesen Verfall auch stimmlich bis an die Grenze zu treiben. Tönt der Zorn des selbstgerechten Herrschers anfangs noch aus voller Kehle, so sind die von irren Lachern durchsetzten Gesangssprenkel am Ende jammervolles Zeugnis der Auflösung von Geist und Macht. Lears Leidensgenosse, Graf von Gloster (Lauri Vasar), ergeht es kaum besser. Auch er hat seine Macht dem falschen Kind anvertraut. Man sticht ihm die Augen aus, er irrt als Blinder durch die Welt und trifft schließlich auf seinen verstoßenen Sohn Edgar, der sich jetzt „Armer Tom“ nennt. Die Wiedererkennungsszene gehört wohl zu den ergreifendsten Momenten des Stücks, auch weil uns Andrew Watts‘ volltönender Countertenor die Verstellungskunst des geächteten Sohns so plastisch vor Ohren führt. Vorbildlich übertreffen sich Pieweck und Kwon als Lears Töchter gegenseitig in ihrer Boshaftigkeit, während Lee in der Rolle der bemitleidenswerten Cordelia immer noch die Kraft zu mitreißenden Sopranaufschwüngen findet.

Das insgesamt dunkel gehaltene Bühnenbild von Roy Spahn verzichtet auf überfrachtenden Ballast, kommentiert das Kleinbürgeridyll der Lear-Töchter mit Pokalen und Miniaturhaus ebenso schlüssig wie die Odyssee des Königs selbst. Durch ein Labyrinth wandelnd wird sein zunehmender Ich-Verlust durch Buchstabenspiele mit dem Wort „Ich“ auf den Wänden sichtbar. Am Ende sitzt Lear nicht nur auf den Scherben seines Lebens, sondern auch auf einer Anhäufung von Särgen. Gestorben wird immer. Aber im „Lear“ besonders zahlreich.

Besonders ist auch „Lears“ Aufführung an der Staatsoper. Zum einen, weil eigentlich schon die Uraufführung des Werks 1978 in Hamburg hätte stattfinden sollen, dann aber vom damaligen Intendanten August Everding kurzerhand mit nach München genommen wurde und das Werk nun erstmals in Hamburg gespielt wird. Zum anderen, weil sich in der aktuellen Besetzung und Umsetzung durch ein hervorragendes Regie/Ausstattungsteam der Stoff in seiner ganzen tragischen Dimension vor Ohr und Auge entfaltet.

 Text: Sören Ingwersen
Foto: Brinkhoff / Mögenburg

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