Wieder ein neues Programm, das vierte in vier Jahren. Das tun sich die wenigsten an, das ist Knochenarbeit, diesmal unter dem Titel „Ein Haifisch im Aquarium“. Am Premierenabend sah wieder alles, was schwer erarbeitet ist, aus als koste es keine Mühe. Die vier Musikerinnen des Hamburger Quartetts Salut Salon – Angelika Bachmann (Violine), Iris Sigfried (Violine und Gesang), Sonja Lena Schmid (Violoncello) und Anne von Twardowski (Klavier) bereiten sich jedes Jahr neben ihrer laufenden Tour auf ihr neues Programm vor, das sie dann erst zweieinhalb Wochen im Thalia Theater in Hamburg spielen, bevor sie damit weltweit auf Tour gehen.
Wir haben das Quartett in dieser spannenden Phase zwischen dem alten und dem neuen Programm begleitet, in der sie leidenschaftlich um jedes Stück ringen, die Originale verändern, weglassen, dazudichten, virtuos umschreiben, Übergänge komponieren – so lange, bis diese besondere Spannung aus Rhythmus und Geschwindigkeit entsteht, die ihrer Spielfreude entspricht und die Salut Salon ausmacht.
I
Dauernd andere Räume zum Üben. „Wir können froh sein, wenn wir überhaupt immer welche mit Flügel haben“, sagt Anne. Die Pianistin ist die einzige im Quartett, die ihr Instrument nicht mit auf Reisen nimmt; zumindest nicht das große, nur Klaviere in kleineren Versionen, das Akkordeon, die Melodica. Gemeinsam geprobt wird immer dort, wo man gerade ist, also meistens dort, wo man am Abend das Gastspiel gibt. Das kann im Trifolion im luxembourgischen Echternach sein, im Prinzregententheater München, im Düsseldorfer Kom(m)ödchen, weit weg in China, oder bei Clown Dimitri im Tessin. Das kann aber auch ganz in der Nähe ihrer Heimatstadt Hamburg sein, im Konzertsaal etwa einer Hotelanlage wie New Living Home, im Strandhotel Glücksburg, einem umgebauten Pferdestall im nördlich von Hamburg gelegenen Ammersbek oder im Meerkabarett auf Sylt. Geprobt wird meist ab 15 Uhr, den ganzen Nachmittag, vor jeder Abendvorstellung. Der Zeitplan ist eng, aber ausgefüllt, jede Probe leitet eine andere der vier, bereitet vor, was geprobt wird und wie lange; ein disziplinierter Vorgang. „Genial“, sagen sie: Vorbereitung, Nachbereitung, beim Feedback zwischen Probe und Vorstellung sagt jede, was ihr wichtig war, was noch offen ist, was sie störte und was sie erfreulich fand. Man ist nicht immer einer Meinung, aber genau darum geht es auch nicht.
II
Glücksburg. Vom Strandhotel hat man einen weiten Blick über die Flensburger Förde, dort, wo sie noch nicht Ostsee ist, aber die See schon ahnen lässt. Über dem Strand hängen an diesem Nachmittag im Mai Wolken. Sonja kommt vom Spaziergang zurück, durchgeatmet. „Ich liebe diese Luft. Man kann hier kilometerweit am Wasser entlanggehen. Herrlich.“ Im Konzertsaal des Viersternehotels sind die Stühle der ersten Reihe belegt. Zwei offene Geigenkästen belegen etwa sieben Stühle, daneben Jacken mal vier, viermal Taschen, der Cellokasten. Eine Handspielpuppe von der Größe eines kleinen Jungen, im Frack, den Griff zum Anfassen auf Höhe des zweiten Halswirbels. Gestatten? Oskar! Ordnung vor der Bühne ist während der Probe nicht wichtig, und doch, weil Unordnung im Außen mitunter innere Zustände ordnen hilft.
III
Von der kleinen Bühne herunter ist Druck zu spüren, Zeitdruck. Man ist in der Experimentierphase, spielt immer mehr Stücke des neuen Programms im alten, aber deshalb muss man sich ja für die Abendvorstellung trotzdem auf eine Version einigen. „Lasst uns den Übergang langsamer spielen, mehr crescendo, überraschender.“ Anne zählt voraus. Musikalisch springt der Hai, der dem neuen Programm den Titel gibt, ins Aquarium, Klaviercluster mit dem rechten Unterarm. Das klingt noch nicht so, wie man es sich vorgestellt hat. Also noch einmal und wieder. Ton und Licht macht an diesem Abend Torsten. Er hat keinen einfachen Job. Die Bühne ist klein, die Möglichkeiten sind einfach. Im Foyer stehen auf Tischen mit weißen Decken und roten Läufern Sektgläser in Reihen. Iris sucht nach einer Möglichkeit, nach Saint-Saens‘ „Aquarium“ den Dämpfer abzulegen und entscheidet sich für die Kerzenhalterattrappe an der Wand neben der Bühne.
IV
Gegen 18 Uhr gibt es etwas zu essen. Angelika hat schon das kleine Schwarze an, statt der Haiheels aber die Badeschlappen aus ihrem Hotelzimmer im dritten Stock, das mit Blick auf die Schiffe. Der Veranstalter hat eingeladen, das Quartett wohnt einige Tage im Hotel, samt Verpflegung, kann in Ruhe proben. Wieder ein Raum mit Flügel, diesmal exquisit, am Ende ein eigentlich archaisches Tauschgeschäft – Musik gegen Kost und Logis. Ein bisschen wirkt die Geigerin mit den weißen Schlappen und dem dunkelblauen Pullover über dem kleinen Schwarzen wie eine dieser leicht neurotischen Frauen aus einem Film von Woody Allen. Eine passable Fassade, hinter der man sich verstecken kann. Nacheinander kommen die vier Frauen vom Büffet zurück. Alle haben sich wieder von der Spargelcremesuppe genommen. Sie schwärmen. Qualität freut, nicht nur in der Musik, auch beim Essen. Der Koch, gefragt, gibt später das Rezept preis. Aber Iris ist sich sicher: Er hat nicht alles verraten, irgendeine geheime Zutat für sich behalten. „Wir können auch in der Küche spielen. Für den Koch!“ Die Kellnerin guckt etwas ratlos, aber amüsiert. Ob der Koch dann die ganze Wahrheit sagt? Dabei wird in den nächsten Wochen sowieso keine der vier Musikerinnen wirklich dazu kommen, zuhause Spargel zu schälen und zur Suppe zu kochen. Die letzten Wochen vor ihrer Premiere im Thalia-Theater sind immer zu wenige Wochen, jetzt sind es noch acht. Zu tun gibt es mehr, als Zeit verrinnen kann. Abgesehen davon ist die Spargelsaison traditionell sowieso am 24.Juni zu Ende.
V
Ammersbek. Schon eine Stunde vor Konzertbeginn stehen die Zuschauer in einer langen Reihe vor der grünen Metalltür, die zum ehemaligen Pferdestall führt. Zum zweiten Mal hat der Kulturkreis des Ortes Salut Salon eingeladen. Mitglieder des Kulturkreises rücken Stühle zurecht, legen nahe der grünen Metalltür auf einem Tisch die Reservierungsbücher zurecht, Flyer, Infomaterial, eine Liste, in die, wer über weitere Auftritte des Hamburger Quartetts informiert werden will, seine Email-Adresse eintragen kann. Einer der Organisatoren sagt, die Nachfrage sei wieder so groß, man hätte den Pferdestall gut zweimal füllen können. Die Unruhe im hinteren Teil des Saals überträgt sich mittlerweile bis auf die Bühne, wo noch immer geprobt wird. „Wir brauchen noch zehn Minuten.“ Heißt: Wir brauchen Ruhe. Auf dem Programm stehen heute abend fünf neue Stücke. Es geht vor allem um Abstimmung. Wer tritt wann von wo auf? Welche Instrumente müssen wo liegen? Außerdem hat Oskar Premiere mit seinem „One Note Samba“. Der junge Mann hadert noch etwas mit seinem Auftritt, bei dem er neben Sonjas Cello steht, das auf Annes Flügel liegt. Hinter Flügel und Cello versteckt hält Iris Oskar und Sonja zupft für den jungen Mann. Der Stuhl hinter dem Flügel lässt eine halsbrecherische Nummer erahnen. Dass sich bloß keiner verletzt! Hat jemand an das Mineralwasser gedacht, das rechts und links von der Bühne stehen muss? Nein. Doch. Aber das ist kein stilles Wasser. Also noch einmal bestellen. Stilles Wasser, weil man das zwischen zwei Nummern schneller trinken kann als Wasser mit Kohlensäure. Für Mai ist es außergewöhnlich heiß im ehemaligen Pferdestall. Noch heißer wird es später beim Auftritt im Lichtkegel auf der kleinen Bühne sein. Die Unruhe ist spürbar, von jenseits der grünen Metalltür, vom Mischpult her, der Ton stimmt noch nicht. Die vier Frauen singen nacheinander, spielen. Langsam stimmt die Einstellung. Unklar ist noch immer die genaue Abfolge des Programms. Kann mal einer eine Liste für den Techniker schreiben? Damit der weiß, wann er auf wen den Spot richten muss, und wann es auf der Bühne dunkel sein soll. Während der Vorhang zugeht, geht im Saal die Tür auf. Iris singt hinter dem Vorhang noch einmal den Song vom Hai. Vor dem Vorhang geht der Run auf die besten Sitzplätze los.
VI
Hamburg, einige Tage nach Ende der Spargelzeit. Es ist zwölf Uhr etwas, noch sieben Minuten bis zur Abfahrt des Regionalexpress 4311 von Gleis 6a im Hauptbahnhof. Die Route des Quartetts heute: bis Bützow, dann Umsteigen Richtung Neustrelitz. Gespielt wird abends in der Konzertkirche Neubrandenburg. Angelika schiebt ihren Koffer, der auf vier Rollen läuft und deshalb auch allein stehen könnte, neben sich her und in die Filiale eines dieser typischen Schnellkaffeeausschanke. Mit Milch? Ja. Bitte. Danke. Deckel drauf. Macht zwei Euro siebzig. Sie wirkt, als habe sie den Kaffee nur gekauft, weil sie zwischendrin keinen Leerlauf mag, auch keinen mit einer Länge von sieben Minuten. Sie sagt: „In der Regionalbahn bekommt man nichts.“ Wäre gerade jetzt noch jemand anzurufen, dann würde auch der Anruf noch in die Lücke passen zwischen Kaffeebude und Zug.
In den Regionalexpress steigen so viele Menschen ein, dass Angelika offensichtlich eine „Reise nach Jerusalem“ befürchtet. Wo denn die erste Klasse sei, fragt sie die Schaffnerin, die – die Ruhe selbst – neben dem Einstieg steht, während die Menschenmassen an ihr vorbeiziehen. „Oben“, antwortet sie und deutet mit dem Finger auf die obere Etage des zweistöckigen Zugs. Koffer, Geige, Tasche, vorbei an einem Fahrrad, zwei Treppen hinauf, zwischen Rucksäcken und Schlafmatten hindurch, überall kauern Fahrgäste, die eigentlich zweitklassig fahren wollten und nun wegen eigener Überzahl in Gängen lungern. Seit heute sind in Hamburg Ferien. Auf einem ehemaligen russischen Militärflugplatz bei Neustrelitz läuft seit Tagen das Fusion-Festival, für das fast 60 000 Karten verkauft wurden.
In der ersten Klasse gibt es tatsächlich freie Plätze. Wenn ein Zug so voll ist, sagt Angelika, dürfe man auch mit dem Länderticket zweiter Klasse erstklassig reisen. Anne hat ihr Gepäck unten stehen gelassen, Koffer und Akkordeon, sitzt jetzt auch erstklassig, eine Reihe weiter am Fenster. Ob das wirklich okay sei? Angelika sagt: „Ja.“ Es wäre einfach zu anstrengend, erst im Zug zu stehen und später noch auf der Bühne. Sie kramt den Probenplan für den Nachmittag aus der Tasche und fängt an, kleine längliche Merkzettelchen in grün, grau, rosé, gelb und blau auf DinA-4-Papier zu kleben. Die Luft ist klimatisiert, zwei Stunden lang zieht mecklenburgische Landschaft wie ein Panorama vorbei. Anne liest, studiert Klaviersätze am Computer. Sonja ist mit Cello und Koffer zwischen erstsemestrigen Medizinstudenten eingeklemmt, die Bier trinken. Irgendwo im Zug sitzt auch Iris, mit einer Tüte Sushi vor sich und der Gruppenfahrkarte.
VII
Kreativität ist gemeinhin ein Vorgang, bei dem etwas Neues entsteht, indem man etwas Altes verwirft. Nicht gleich den ganzen Mozart oder Vivaldi, nein. Aber ein paar Noten, vielleicht die entscheidenden, die aus der reinen Klassik das machen, was sich auch eigentlich klassikferne Menschen gern anhören. Ein anderer Einstieg vielleicht, mittendrin ein kleines Zitat eines anderen, oder eine dramaturgisch sinnvolle Verteilung aller Noten auf zwei Geigen statt einer, Akkordeon statt Klavier, Flöte statt Cello, Tanzschritte unisono, akrobatische Verrenkungen. Die vier Frauen von Salut Salon ändern jedes Stück, das sie spielen. Ob man das darf? Puristen sagen: nein. Bei der Auswahl der Stücke gibt die eigene Leidenschaft den Ton an, manchmal ist es einfach so, dass eine der vier ein Stück hört und es berührt etwas in ihr. Also probiert man es zu viert, vieles fügt sich im Zusammenspiel, dann innerhalb des Programms. Das dauert manchmal Wochen. Kreativität bleibt ein Vorgang, was heißt, dass währenddessen Zeit vergeht.
VIII
Bützow. Sonja sitzt noch immer im Regionalexpress 4311 nach Rostock. Die anderen drei im OLA 79807 Richtung Neubrandenburg. Sonja fährt Richtung Norden, die anderen Richtung Osten. Die Medizinstudenten, die sich zwei Stunden lang über Witze von Operationen, Blondinen und Hirngrößen amüsiert hatten, schafften es am Umsteigebahnhof Bützow nicht, ihre Schlafmatten und Rucksäcke schnell genug aus dem Weg zu räumen, so dass Sonja, Cello und Koffer an ihnen vorbei zum Ausgang hätten gelangen können. Als der Zug weiterfährt, bekommt Sonja Magenschmerzen. Bis nach dem Konzert wird sie die nicht los, auch nachts nicht, während sie mit Iris im gemieteten Auto noch weiter nach Berlin fährt.
IX
Vorpremieren sind Vorstellungen, bei denen das neue Programm ausprobiert wird. Ab Januar sind eigentlich alle Tourkonzerte von Salut Salon Vorpremieren. Jeder Abend ist anders. Das geht bis Juli so, dann steht das Programm, mit dem die vier ab September auf Tour gehen. Offiziell vorgestellt wird es im Thalia Theater in Hamburg, vor heimischem Publikum. Das Propheten-Phänomen, das alle kennen, die schon einmal daheim gespielt haben oder ein Stück Text vorgelesen oder überhaupt Gedanken geäußert, kennen die vier Wahl- und Hamburgerinnen nicht. Die Weltpresse ist begeistert, die heimische auch. Die Frage, ob das, was Salut Salon machen, noch Klassik ist, liebt Angelika in Interviews besonders, wo sie doch beide Seiten kennt, als Geigerin weiß, was Klassik sollen muss und dürfen kann, und weil sie selbst auch so ungern stillsitzt. „Wir machen Musik für alle“, sagt sie dann. „Für Klassikkenner wie für die, die das erste Mal in ein Kammerkonzert kommen.“ Die Musik als Geburtshelfer, gar nicht tragisch, weil es meistens gut ausgeht. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, als auch Sonja mit Cello, Koffer und mehr als einstündiger Verspätung die Konzertkirche Neubrandenburg betritt.
X
Neubrandenburg. Seit 2001 ist in der drittgrößten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns die Kirche St.Marien Konzertkirche mit 850 Sitzplätzen. Hier spielten schon die Pianistin Hélène Grimaud und der Pianist Alfred Brendel. Zuhause ist hier die Neubrandenburger Philharmonie. Angelikas Probenplan aus dem Zug hängt im Aufsteller, geprobt wird im Viertelstundentakt; alle fünfzehn Minuten ein anderes Stück. Manchmal machen gar nicht virtuose Stücke wie Sarasates „Introduktion und Tarantella“ Probleme. Manchmal verzweifeln die Perfektionistinnen an eigentlich einfachen Überleitungen. Während Iris und Sonja damit beschäftigt sind, das Cello so auf den Flügel zu positionieren, dass daraus später für Oskar ein Kontrabass werden kann, spielen Anne und Angelika die immer selbe Melodie. Na gut, nicht immer die immer selbe Melodie. Es ist eben doch etwas anderes, ob man Zeit hatte, allein und für sich zu üben, oder ob man die eigene Stimme im Zug auswendig gelernt hat. Anne sagt: „Spiel irgendwas.“ Angelika spielt und spielt und spielt, auch, weil man im derzeitigen Stand der Nummer nie weiß, wie lange Iris und Sonja für den Umbau brauchen. Auch eine Art von Üben. Noch ist alles Probe.
XI
In der Konzertkirche ist es erst dunkel, wenn es auch draußen dunkel ist. An diesem Abend geht die Sonne nach halb zehn unter, die vier Musikerinnen treten im Hellen auf. Man ist ein bißchen spät dran. Bis kurz nach halb acht Feedbackrunde, dann noch eine Kleinigkeit essen, umziehen, schminken. Bis kurz vor acht hatte Iris noch die vorgewärmten Lockenwickler im Haar. Bei der Hai-Ouvertüre merkt davon keiner was, alle sind sofort präsent. Das Publikum zieht spätestens beim zweiten Stück nach, in die „Tarantella“ fällt begeisterter Applaus in den Schlussakkord. Fünfunvierzig Minuten und zehn weitere Stücke später ist Pause. Das Publikum summt beim Hinausgehen den Refrain des Haifischsongs. Die vier im kleinen Schwarzen tauchen in die Musikerräume ab, die dort sind, wo sich sonst in Kirchen die Gruft befindet, essen, ruhen aus, versuchen, Magenschmerzen wegzumassieren. Angelika spielt im vorderen Kirchenteil hinter der Bühne Geige.
XII
„Meine üben ja nicht“, sagt die Frau in Reihe 13, die mit ein paar anderen Frauen ziemlich mittig im Parkett sitzt und einen prima Blick auf die Bühne hat. Nicht genug, wird sie gesagt haben wollen. Nicht genug, um auch irgendwann einmal auf der Bühne zu stehen und Musik zu machen. „So was muss ein Lebensziel sein, sonst geht das nicht“, philosophiert sie weiter, während sich die Reihen lichten. Pause. Die Zuhörer in der Kulturkirche Neubrandenburg strömen ins Foyer. Sie reden über klassische Musik. Und über Freude beim Spielen. Durchschnittlich nur etwa jeder fünfte von ihnen spielt selbst ein Instrument. An diesem Abend ist das nicht wichtig. Die Musik macht den Menschen Spaß, sie applaudieren, wenn ihnen etwas gefällt, rücksichtslos, mitten im Stück, wenn es denn passend erscheint. Den Meckie Messer kennen sie hier alle. Sie freuen sich, lachen. Die Dame im Pensionsalter, die mit ihrer Tochter da ist, fragt: „Kommen die jedes Jahr?“
XIII
Minutiös ist jeder Übergang geplant, jede Phrase, jedes Crescendo. Trotzdem läuft kein Abend nach Plan. Den gibt es vielleicht nur, weil ein Plan dazugehört, weil es beruhigt, alles besprochen zu haben. Wenn der Vorhang aufgeht, ist alles anders. Auch wenn es wie in Neubrandenburg keinen Vorhang gibt. Dann zählt nur, was im Moment passiert – und Überlebenswillen. An diesem Abend beweist Iris, dass ihrer besonders stark ist. Beim Umbau für Oskars „One Note Samba“ rammt Sonja ihr das Cello mit der Schnecke voran gegen den Kopf, Iris taucht ab, dorthin, wo sonst der Stuhl hinter dem Flügel steht. Diesmal hat Reinhard, der Techniker, dort ein Podest aufgebaut. Wie immer, wenn etwas schief geht, dieselbe Prozedur: Angelika lacht, dann Anne, dann Sonja, dann Iris. Dann lacht das Publikum und applaudiert. Weh getan hat es trotzdem. Später sagt Marcos, der eigentlich ordentlicher Geiger bei den Neubrandenburger Philharmonikern ist, und der an diesem Abend im Publikum saß (anders begeistert als die anderen Zuschauer, weil er nun überlegt, auf seiner Geige auch mal „unordentlich“ zu spielen) – Marcos sagt später, als in der Nachbesprechung des Konzerts zwischen den Musikerinnen kein Patzer unkritisiert bleibt, keine Panne unerwähnt, als alles, was nicht stimmte, angesprochen wird – er habe ja gedacht, das Programm sei genauso wie er es gesehen hat, auch geplant gewesen. Angelika lacht. „Das ist der Satz des Abends.“
XIV
Nur noch sieben Tage bis zur offiziellen Premiere. In der Nacht von Fingersätzen geträumt. Am nächsten Morgen wird nach dem Frühstück im Hotel gleich geübt, zwei Stunden später müssen Angelika und Anne den Zug von Neubrandenburg nach Berlin erreichen, abends ist die nächste Vorpremiere in Potsdam, die vorvorletzte. Ab 15 Uhr wird geprobt, den ganzen Nachmittag. Der Zeitplan ist eng, aber ausgefüllt, die Probe leitet Iris. Als Anne und Angelika gegen halb drei in Potsdam ankommen, ist Sonja mit Cello und Koffer auch schon da.
Text: Stephanie Schiller
Fotos: Peter Dammann