Drehbühne / Größen von Gestern

Zum 200. Todestag von Heinrich von Kleist

Am 21. Novem­ber 1811 nahm sich der große Drama­ti­ker Hein­rich von Kleist das Leben. Er hinter­ließ ein impo­nie­ren­des Bühnen­werk, das ausdau­ernd gespielt wird, zu seinen Lebzei­ten aber – für Kleist bis über die Schmerz­grenze hinaus – wenig Anklang fand. Mit seinem berühm­ten Aufsatz, in dem er über das Denken beim Reden nach­denkt, möch­ten wir seiner gedenken.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

Wenn du etwas wissen willst und es durch Medi­ta­tion nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinn­rei­cher Freund, mit dem nächs­ten Bekann­ten, der dir aufstößt, darüber zu spre­chen. Es braucht nicht eben ein scharf­den­ken­der Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befra­gen soll­test: nein! Viel­mehr sollst du es ihm selber aller­erst erzäh­len. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antwor­ten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gege­ben, von nichts zu spre­chen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahr­schein­lich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus der verstän­di­gen Absicht spre­chest, dich zu beleh­ren, und so können, für verschie­dene Fälle verschie­den, beide Klug­heits­re­geln viel­leicht gut neben­ein­an­der bestehen. Der Fran­zose sagt, l’ap­pé­tit vient en mange­ant, und dieser Erfah­rungs­satz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idee vient en parlant.

Oft sitze ich an meinem Geschäfts­tisch über den Akten, und erfor­sche, in einer verwi­ckel­ten Streit­sa­che, den Gesichts­punkt, aus welchem sie wohl zu beur­tei­len sein möchte. Ich pflege dann gewöhn­lich ins Licht zu sehen, als in den hells­ten Punkt, bei dem Bestre­ben, in welchem mein inners­tes Wesen begrif­fen ist, sich aufzu­klä­ren. Oder ich suche, wenn mir eine alge­brai­sche Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Glei­chung, die die gege­be­nen Verhält­nisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflö­sung nach­her durch Rech­nung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwes­ter davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbei­tet, so erfahre ich, was ich durch ein viel­leicht stun­den­lan­ges Brüten nicht heraus­ge­bracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigent­li­chen Sinne, sagte; den sie kennt weder das Gesetz­buch, noch hat sie den Euler, oder den Käst­ner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgend­eine dunkle Vorstel­lung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in eini­ger Verbin­dung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fort­schrei­tet, in der Notwen­dig­keit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verwor­rene Vorstel­lung zur völli­gen Deut­lich­keit aus, derge­stalt, daß die Erkennt­nis zu meinem Erstau­nen mit der Peri­ode fertig ist. Ich mische unar­ti­ku­lierte Töne ein, ziehe die Verbin­dungs­wör­ter in die Länge, gebrau­che wohl eine Appo­si­tion, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich ande­rer, die Rede ausdeh­nen­der, Kunst­griffe, zur Fabri­ka­tion meiner Idee auf der Werk­stätte der Vernunft, die gehö­rige Zeit zu gewin­nen. Dabei ist mir nichts heil­sa­mer, als eine Bewe­gung meiner Schwes­ter, als ob sie mich unter­bre­chen wollte; denn mein ohne­hin schon ange­streng­tes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befin­det, zu entrei­ßen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähig­keit, wie ein großer Gene­ral, wenn die Umstände drän­gen, noch um einen Grad höher gespannt. In diesem Sinne begreife ich, von welchem Nutzen Moliere seine Magd sein konnte; denn wenn er dersel­ben, wie er vorgibt, ein Urteil zutraute, das das seinige berich­ten konnte, so ist dies eine Beschei­den­heit, an deren Dasein in seiner Brust ich nicht glaube. Es liegt ein sonder­ba­rer Quell der Begeis­te­rung für denje­ni­gen, der spricht, in einem mensch­li­chen Antlitz, das ihm gegen­über­steht; und ein Blick, der uns einen halb ausge­drück­ten Gedan­ken schon als begrif­fen ankün­digt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganz andere Hälfte desselben.

Ich glaube, daß mancher großer Redner, in dem Augen­blick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Über­zeu­gung, daß er die ihm nötige Gedan­ken­fülle schon aus den Umstän­den, und der daraus resul­tie­ren­den Erre­gung seines Gemüts schöp­fen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.

Mir fällt jener »Donner­keil« des Mira­beau ein, mit welchem er den Zere­mo­ni­en­meis­ter abfer­tigte, der nach Aufhe­bung der letz­ten monar­chi­schen Sitzung des Königs am 23ten Juni, in welcher dieser den Stän­den ausein­an­der­zu­ge­hen anbe­foh­len hatte, in den Sitzungs­saal, in welchem die Stände noch verweil­ten, zurück­kehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernom­men hätten? »Ja«, antwor­tete Mira­beau, »wir haben des Königs Befehl vernom­men« - ich bin gewiß, daß er, bei diesem huma­nen Anfang, noch nicht an die Bajo­nette dachte, mit welchen er schloß: »ja, mein Herr«, wieder­holte er, »wir haben ihn vernom­men« - man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. »Doch was berech­tigt Sie« - fuhr er fort, und nun plötz­lich geht ihm ein Quell unge­heu­rer Vorstel­lun­gen auf - »uns hier Befehle anzu­deu­ten? Wir sind die Reprä­sen­tan­ten der Nation.« - Das war es, was er brauchte! »Die Nation gibt Befehle und empfängt keine« - um sich gleich auf den Gipfel der Vermes­sen­heit zu schwin­gen. »Und damit ich mich ihnen ganz deut­lich erkläre« - und erst jetzo findet er, was den ganzen Wider­stand, zu welchem seine Seele gerüs­tet dasteht, ausdrückt: »So sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajo­nette verlas­sen werden.« - Worauf er sich, selbst­zu­frie­den, auf einen Stuhl nieder­setzte. - Wenn man an den Zere­mo­ni­en­meis­ter denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völli­gen Geis­tes­ban­k­erott vorstel­len; nach einem ähnli­chen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von einem elek­tri­schen Zustand Null ist, wenn er in eines elek­tri­sier­ten Körpers Atmo­sphäre kommt, plötz­lich die entge­gen­ge­setzte Elek­tri­zi­tät erweckt wird. Und wie in dem elek­tri­sier­ten dadurch, nach einer Wech­sel­wir­kung, der in ihm inwoh­nende Elek­tri­zi­täts­grad wieder verstärkt wird, so ging unse­res Redners Mut, bei der Vernich­tung seines Gegners, zur verwe­gens­ten Begeis­te­rung über. Viel­leicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Ober­lippe war, oder ein zwei­deu­ti­ges Spiel an der Manschette, was in Frank­reich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, daß Mira­beau sobald der Zere­mo­ni­en­meis­ter sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1) sich sogleich als Natio­nal­ver­samm­lung, und 2) als unver­letz­lich, zu konsti­tu­ie­ren. Denn dadurch, daß er sich, einer Kleis­ti­schen Flasche gleich, entla­den hatte, war er nun wieder neutral gewor­den, und gab, von der Verwe­gen­heit zurück­ge­kehrt, plötz­lich der Furcht vor dem Chate­let, und der Vorsicht, Raum.

Dies ist eine merk­wür­dige Über­ein­stim­mung zwischen den Erschei­nun­gen der physi­schen und mora­li­schen Welt, welche sich, wenn man sie verfol­gen wollte, auch noch in den Neben­um­stän­den bewäh­ren würde. Doch ich verlasse mein Gleich­nis, und kehre zur Sache zurück.

Auch Lafon­taine gibt, in seiner Fabel: les animaux mala­des de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apolo­gie zu halten gezwun­gen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu herneh­men soll, ein merk­wür­di­ges Beispiel von einer allmäh­li­chen Verfer­ti­gung des Gedan­kens aus einem in der Not hinge­setz­ten Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht im Tier­reich, der Löwe versam­melt die Großen dessel­ben, und eröff­net ihnen, daß dem Himmel, wenn er besänf­tigt werden solle, ein Opfer fallen müsse. Viel Sünder seien im Volke, der Tod des größes­ten müsse die übri­gen vom Unter­gang retten. Sie möch­ten ihm daher ihre Verge­hun­gen aufrich­tig beken­nen. Er, für sein Teil, gestehe, daß er, im Drange des Hungers, manchem Schafe den Garaus gemacht; auch dem Hunde, wenn er ihm zu nahe gekom­men; ja, es sei ihm in lecker­haf­ten Augen­bli­cken zuge­sto­ßen, daß er den Schä­fer gefres­sen. Wenn niemand sich größe­rer Schwach­hei­ten sich schul­dig gemacht habe, so sei er bereit zu ster­ben. »Sire«, sagt der Fuchs, der das Unge­wit­ter von sich ablei­ten will, »Sie sind zu groß­mü­tig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaf erwür­gen? Oder ein Hund, diese nichts­wür­dige Bestie? Und: quant au berger«, fährt er fort, denn dies ist der Haupt­punkt: »On peut dire«; obschon er noch nicht weiß, was? »qu’il méri­toit tout mal«; auf gut Glück; und somit ist er verwi­ckelt; »etant«; eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschafft: »de ces gens la«, nun erst findet er den Gedan­ken, der ihn aus der Not reißt: »qui sur les animaux se font un chime­ri­que empire«. Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blut­dürs­tige! (der alle Kräu­ter auffrißt), das zweck­mä­ßigste Opfer sei, worauf alle über ihn herfal­len, und ihn zerreißen.

Ein solches Reden ist wahr­haft lautes Denken. Die Reihen der Vorstel­lun­gen und ihrer Bezeich­nun­gen gehen neben­ein­an­der fort, und die Gemüts­akte, für eins und das andere, kongru­ie­ren. Die Spra­che ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemm­schuh an dem Rade des Geis­tes, sondern wie ein zwei­tes mit ihm paral­lel fort­lau­fen­des, Rad an seiner Achse.

Etwas ganz ande­res ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedan­ken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrü­ckung zurück­blei­ben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erre­gen, hat viel­mehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erre­gung abzu­span­nen. Wenn daher eine Vorstel­lung verwor­ren ausge­drückt wird, so folgt der Schluß noch gar nicht, daß sie auch verwor­ren gedacht worden sei; viel­mehr könnte es leicht sein, daß die verwor­renst ausge­drück­ten gerade am deut­lichs­ten gedacht werden. Man sieht oft in einer Gesell­schaft, wo, durch ein lebhaf­tes Gespräch, eine konti­nu­ier­li­che Befruch­tung der Gemü­ter mit Ideen im Werk ist, Leute, die sich, weil sie sich der Spra­che nicht mäch­tig fühlen, sonst in der Regel zurück­ge­zo­gen halten, plötz­lich, mit einer zucken­den Bewe­gung aufflam­men, die Spra­che an sich reißen und etwas Unver­ständ­li­ches zur Welt brin­gen. Ja, sie schei­nen, wenn sie nun die Aufmerk­sam­keit aller auf sich gezo­gen haben, durch ein verleg­nes Gebär­den­spiel anzu­deu­ten, daß sie selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen. Es ist wahr­schein­lich, daß diese Leute etwas recht Tref­fen­des, und sehr deut­lich, gedacht haben. Aber der plötz­li­che Geschäfts­wech­sel, der Über­gang ihres Geis­tes vom Denen zum Ausdrü­cken, schlug die ganze Erre­gung dessel­ben, die zur Festal­tung des Gedan­kens notwen­dig, wie zum Hervor­brin­gen, erfor­der­lich war, wieder nieder. In solchen Fällen ist es um so uner­läß­li­cher, daß uns die Spra­che mit Leich­tig­keit zur Hand sei, um dasje­nige, was wir gleich­zei­tig gedacht haben, und doch nicht gleich­zei­tig von uns geben können, wenigs­tens so schnell als möglich, aufein­an­der folgen zu lassen. Und über­haupt wird jeder, der, bei glei­cher Deut­lich­keit, geschwin­der als sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil er gleich­sam mehr Trup­pen als er ins Feld führt.

Wie notwen­dig eine gewisse Erre­gung des Gemüts ist, auch selbst nur, um Vorstel­lun­gen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeu­gen, sieht man oft, wenn offene, und unter­rich­tete Köpfe exami­niert werden, und man ihnen, ohne vorher­ge­ge­gan­gene Einlei­tung, Fragen vorlegt, wie diese: was ist der Staat? Oder: was ist das Eigen­tum? Oder derglei­chen. Wenn diese jungen Leute in einer Gesell­schaft befun­den hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigen­tum, schon eine Zeit lang unter­hal­ten hätte, so würden sie viel­leicht mit Leich­tig­keit, durch Verglei­chung, Abson­de­rung und Zusam­men­fas­sung der Begriffe, die Defi­ni­tion gefun­den haben. Hier aber, wo die Vorbe­rei­tung des Gemüts gänz­lich fehlt, sieht man sie stocken, und nur ein unver­stän­di­ger Exami­na­tor wird daraus schlie­ßen, daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist aller­erst ein gewis­ser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geis­ter, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswen­dig gelernt, und morgen schon wieder verges­sen haben, werden hier mit Antwort bei der Hand sein. Viel­leicht gibt es über­haupt keine schlech­tere Gele­gen­heit, sich von einer vorteil­haf­ten Seite zu zeigen, als grade eine öffent­li­ches Examen. Abge­rech­net, daß es schon wider­wär­tig und das Zart­ge­fühl verlet­zend ist, und daß es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehr­ter Roßkamm nach den Kennt­nis­sen sieht, um uns, je nach­dem es fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtre­ten zu lassen: es ist so schwer, auf ein mensch­li­ches Gemüt zu spie­len und ihm seinen eigen­tüm­li­chen Laut abzu­lo­cken, es verstimmt sich so leicht unter unge­schick­ten Händen, daß selbst der geüb­teste Menschen­ken­ner, der in der Hebe­am­men­kunst der Gedan­ken, wie Kant sie nennt, auf das meis­ter­haf­teste bewan­dert wäre, hier noch, wegen der Unbe­kannt­schaft mit seinem Sechs­wöch­ner Mißgriffe tun könnte. Was übri­gens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwis­sends­ten noch, in den meis­ten Fällen ein gutes Zeug­nis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemü­ter der Exami­na­to­ren, wenn die Prüfung öffent­lich geschieht, selbst zu sehr befan­gen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unan­stän­dig­keit dieses ganzen Verfah­rens: man würde sich schon schä­men, von jeman­den, daß er seine Geld­börse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weni­ger, seine Seele: sondern ihr eige­ner Verstand muß hier eine gefähr­li­che Muste­rung passie­ren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmach­vol­ler viel­leicht, als der, eben von der Univer­si­tät kommende, Jüng­ling, gege­ben zu haben, den sie examinierten.

Hein­rich von Kleist (1805)

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